Samstag, 11. September 2021

Wie an einem Gummiseil

Heute ist er pünktlich! Wie jeden Morgen steigt A. in den Zug, der sie in einer knappen halben Stunde nur ein paar hundert Meter von ihrer Arbeitsstelle entfernt wieder ausspucken wird. Dank der Sommerferien ist es sehr ruhig und sie lehnt sich entspannt zurück. Sie sieht die gewohnte Landschaft am Fenster vorbei ziehen. Links die Lärmschutzwand, der Altstoffsammelhof, der Wald, die Wiese.
Sie schließt die Augen. Noch ein paar Minuten dösen, das tut gut. Der Zug rüttelt und schüttelt sie in einen kurzen Schlaf.
Ihr Kopf kippt nach vorne und schon ist sie wieder wach. Durch die halb geschlossenen Augen sieht sie rechts die Wiese, den Wald, den Altstoffsammelhof... Moment mal! Das ist die falsche Richtung! Wieso fährt der Zug denn jetzt zurück? Ist er stehengeblieben und muss zurücksetzen? So muss es wohl sein. Was mag da passiert sein? Die anderen Fahrgäste scheinen nicht beunruhigt zu sein, sitzen ruhig auf ihren Plätzen und lesen, reden oder scrollen auf ihren Smartphones herum.
Dann fällt es ihr auf - da stimmt was nicht. Wenn sie wieder zurückfahren, wieso sitzt sie dann nicht gegen die  Fahrtrichtung? Der Zug kann doch keine Schleife fahren und umdrehen? Gerade erst hat sie diesen Gedanken fertig gedacht, schon ist sie wieder an ihrem Einstiegsbahnhof. Verwirrt steigt sie aus und bleibt am Bahnsteig stehen. Ratlos. Was soll sie tun? Sie wollte doch in die Arbeit. Sie blickt sich um. Außer ihr sind noch einige andere Personen ausgestiegen, die aber alle zielgerichtet in die verschiedensten Richtungen verschwinden. Nur sie steht  noch da und schüttelt verwundert den Kopf.
Sie blickt auf die Uhr. Es ist Viertel nach sieben. Eigentlich sollte sie in fünfzehn Minuten in der Arbeit sein. In dem Moment kündigt die Lautsprecherstimme einen Zug auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig an. Den muss sie erwischen. Sie stürmt los, ein Stück nach vorne, die Treppen der Überführung hinauf, auf der anderen Seite runter, noch ein bisschen Tempo zulegen - so schnell ist sie seit Jahren nicht mehr gerannt - eine 180 Grad Kurve und hinein in den Zug. Kaum hat sich die Türe hinter ihr geschlossen, fährt er an.
Heftig atmend lässt sie sich auf einen Einzelplatz gleich hinter der Schiebetür fallen. Der Waggon ist noch leerer, als der zuvor, nur vier Reihen vor ihr sitzen zwei Frauen, die sich angeregt unterhalten, während die eine unablässig in ihrer Tasche wühlt.
Immer noch keuchend ordnet sie ihre Jacke, den Rucksack und sich selbst. Automatisch geht ihr Blick nach links. Da ist sie ja wieder die Lärmschutzwand. Auch der Altstoffsammelhof steht noch dort, wo er hingehört, danach kommt der Wald und dann die Wiese. Gut so. So soll es sein. Jetzt die Augen offen halten, nicht einschlafen, dann müsste alles gut gehen.
Ein wenig entspannen sich jetzt ihre Schultern, der Nacken wird weicher und sie spürt, dass auch ihr Puls sich wieder dem Normalbereich nähert. Ein dumpfer Rums von vorne, lässt sie kurz zusammenzucken. Der Kramerin ist ihre Handtasche vom Schoß gerutscht und liegt nun mit der Öffnung nach unten im Gang. Sofort beginnt ihre Besitzerin, die Inhalte einzusammeln und A. lehnt den Kopf wieder zurück. Dabei wandert ihr Blick nach rechts und ... das gibt es doch gar nicht! Da sind wieder Wiese, Wald, der Altstoffsammelhof und  die Lärmschutzwand. Ihr wird eiskalt und ihr Herz pocht noch schneller und härter, als eben noch nach ihrem Sprint. Schweiß läuft ihr den Rücken hinunter, sie sitzt wie erstarrt.
Völlig ungläubig sieht sie den Bahnsteig erneut neben sich auftauchen und wie in Trance steht sie auf und steigt aus. Erst als der Zug wieder abgefahren ist, fällt ihr ein, dass sie doch die beiden Frauen hätte fragen können, was da gerade passiert ist. Warum sie nicht darauf reagieren, dass der Zug einfach nur so hin und her pendelt. Sich als Ganzes auf den Schienen umdreht völlig ohne Grund und ohne, dass jemand etwas davon bemerkt. Dieses Mal ist sie völlig alleine am Bahnsteig. Wieder ihr Blick zur Uhr - gerade mal 8 Minuten war sie unterwegs. Ihr ist flau im Magen und anstatt sich ein weiteres Mal auf die andere Gleisseite zu stürzen, setzt sie sich einfach auf die Wartesitze aus Metallgitter und drückt ihren Rucksack an sich. In ihrem Kopf breitet sich ein Gefühl der Leere aus und der kurze Gedanke, dass sie in der Arbeit anrufen sollte, um sich - ja was Krank? Verspätet? Unfähig in die Arbeit zu gelangen? zu melden - verschwindet auf Nimmerwiedersehen.
Über zwei Stunden später - sie hat sieben Züge anhalten und wieder abfahren sehen und aus keinem stieg jemand aus, der so wirkte, als sei er nicht da angekommen, wo er hinwollte - steht sie auf und geht los. Nicht in die Richtung ihrer Wohnung. Nein, diesen Fehler macht sie heute nicht noch einmal. Sie geht in die entgegengesetzte Richtung, betrachtet die ihr so gut bekannte Gegend, freut sich über jedes Haus, jeden Baum, jede Straße und jede Wiese. Wenn sich die Wiesen, Straßen, Bäume und Häuser kurz darauf auf der anderen Straßenseite wieder zeigen und sie vor sich das Bahnhofsgebäude wieder auftauchen sieht, regt sie sich nicht auf, sondern bezieht wieder ihren Platz auf den Wartesesseln, bevor sie es ein weiteres Mal versucht, irgendwie von diesem Ort weg zu kommen.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen