Donnerstag, 2. Oktober 2014

Lebenswege


Sie läuft und läuft und läuft. Der Regen klatscht ihr ins Gesicht. Nur nicht umdrehen. Keine Zeit verschenken. Morgen wäre alles vorbei. Sowieso. Aber eben erst morgen. Sie hätten noch eine Nacht, eine ganze Nacht miteinander gehabt. Warum glaubt sie, mit Flucht etwas besser zu machen? Morgen wäre sie darauf gefasst. Morgen ist der Tag X. Das Enddatum. Kurs vorbei, alle Teilnehmer fahren nach Hause. Wenn sie nur daran denkt, bleibt ihr die Luft weg. Das Herz stolpert, sie will da nicht mehr hin. Immer das Gleiche, Arbeit, Essen, aus. Keine Abwechslung, keine Zerstreuung. Sie kann nicht mehr, ihre Füße brennen, sie bleibt stehen, atmet tief durch, läuft weiter, ein kleines Stück. Dann bleibt sie stehen. Lässt sich auf eine Mauer fallen. Sitzt, schnauft, heult.

Was soll sie tun? Wohin gehen? Zurück? Der Kurs hat schon begonnen – nähen und kochen – als ob sie das nicht eh schon ihr ganzes Leben lang tut. Andauernd, wenn man mal von der Zeit absieht, die sie im Geschäft gestanden und Fische verkauft hat. Was weiter? Es passiert nichts, wenn sie es nicht getan hat.
Ein Mann bleibt stehen, schaut sie neugierig an und fragt sie, ob sie ärztliche Hilfe benötigt. Einen Gnadenschuss, denkt sie bei sich, schüttelt aber den Kopf. Er geht weiter. Nach Hause zu seiner Frau, seinem Sohn, seinem Hund. Die werden dann in umgekehrter Reihenfolge begrüßt.

„Wie war dein Tag“, fragt sie.
„Interessiert dich das?“
„Ja, sonst würde ich nicht fragen.“
Er grunzt und geht ins Büro. Legt seinen Mantel und seine Aktentasche auf den Stuhl und sagt: „Da war gerade eine ältere Frau am Stadtplatz, die saß am Boden und hat gehechelt wie ein gejagtes Reh.“
„Wie, am Boden?“, fragt sie.
„Am Boden halt. Ich wollte ihr helfen, aber sie hat abgelehnt.“
„Und du hast sie sitzen lassen?“
„Ja, was denn sonst, ich kann sie ja nicht wegtragen.“

Im Kurs sitzen alle am letzten Werkstück. Arbeitsmarktpolitische Schulung wird das genannt. Zehn Frauen mittleren Alters bekommen nach einer Woche Kurs einen Zettel, auf dem steht, dass sie das, was sie immer schon gemacht haben, womit sie zum Teil ihren Lebensunterhalt verdient und ihre Familie ernährt haben, nun „offiziell“ können.
Mitten am Nachmittag geht die Tür auf und sie betritt leise den Raum. Nimmt ihren Platz ein und greift zu einem Stück Stoff, das vor ihr liegt. Sie hat keine rechte Lust mehr, es an das fast fertige Kleid anzunähen, wie sie es ursprünglich vorgehabt hat. Während sie so sitzt, überlegt sie, warum sie hier sitzt. Sie weiß es nicht, also steht sie auf, um den Raum wieder zu verlassen. Die Kursleiterin fragt, ob sie den Faden verloren hat. „Ja, das kann man sagen.“

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4 Kommentare:

  1. Antworten
    1. Liebe Anja,
      ja das ist es. Vor allem, weil ich diesen Wunsch schon viele, viele Jahre hatte. Aber erst vor einem Jahr begann ich mich ernsthaft dranzusetzen... :)

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  2. Hab gestern meinen Augen nicht getraut, als ich Deinen Blogeintrag las. So eine Freude Deine Buch ist fertig. Beim lesen dieser Zeilen hier mußte ich sofort an meine Mutter denken. Die mußte in den 90igern auch sowas machen. Kochen, schreiben, rechnen... und sie hat es gehasst. Bis auf die Frauen die sie da kennengelernt hat. Ich bin gespannt auf das ganze Buch, es spricht mich gleich an.
    Viele liebe Grüße Bärbel

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    1. Liebe Bärbel,
      ach das ist ja witzig!
      Ich weiß zwar, dass es solche Kurse gibt (gegeben hat?), kenne aber selbst niemanden, der daran teilnehmen musste! :)
      Danke!

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