Freitag, 15. Februar 2019

Vater und Sohn

Schon seit Jahren und Jahrzehnten liegen die beiden, die schon zu Lebzeiten mehr Unstimmigkeiten hatten, als harmonische Momente, nebeneinander im Grab. Da wurde nicht gefragt, nicht lange gefackelt. Das Familiengrab ist da, also wird es auch genutzt. Hätten die Lebenden gewusst, welche Ereignisse sie dadurch auslösen würden, hätten sie diese Entscheidung vielleicht noch einmal überdacht.
Aber das ist Jahre her.

Siebzehn Jahre bei dem einen - er wurde nicht alt. Mit 73 beschloss sein Herz, dass genug sei und hörte auf zu schlagen.
Vierunddreißig Jahre beim anderen. Er war eines Nachts auf dem Heimweg vom Stammtisch auf einer leicht abschüssigen Stelle ausgerutscht oder gestolpert und mit dem Kopf so unglücklich auf einen spitzen Stein einer kleinen Mauer gestürzt, dass er wohl auf der Stelle tot war. Ob dabei der Alkohol eine Rolle gespielt hatte oder nicht, wurde nicht diskutiert. Ein bedauerlicher Unfall, den trotzdem viele mit einem leisen Aufatmen quittierten, steigerten sich die Zornesausbrüche des Alten in seinen letzten Lebensjahren doch exorbitant. Aus den nichtigsten Gründen konnte er, der sein Leben lang schon cholerisch gewesen war, beginnen zu schreien und zu toben, Frau, Sohn und Enkelkinder zu beschimpfen und danach zornig Richtung Wirtshaus stapfen. Auch dort hatte er gelegentlich einen seiner Wutausbrüche gehabt, allerdings nur bis zu dem Tag, an dem Anita, die Kellnerin ihn so harsch am vollen Stammtisch zurechtgewiesen hat, dass ihm mitten drin einfach die Stimme wegblieb und es in der ganzen Wirtsstube für einen kurzen Moment so still war, dass man eine Nadel hätte fallen hören. Seit dem zeigte er sich dort grummelig-versöhnlich und brachte gelegentlich sogar ein kleines Lächeln zustande, wenn er seine Halbe Bier in seinem Steinkrug unaufgefordert vor sich hingestellt bekam.

Franz der Ältere, nennen wir ihn Franz Senior war Tischler gewesen. Allerdings hatte er den Großteil seines Lebens als Hilfskraft gearbeitet. Erst bei einem Großbauern, dann bei dessen Bruder, der eine Baufirma gründete. Natürlich hatte er immer Tischler- und Schreinerarbeiten übernommen, wenn welche angefallen waren, aber genauso oft hatte er am Feld oder später auf der Baustelle geholfen, wo Not am Mann war. Er konnte alles, was man ihm einmal gezeigt hatte und führte jede handwerkliche Arbeit aus, als hätte er sie von der Pieke auf erlernt.
Ganz anders sein Sohn Franzi. Schon die Verkleinerung seines Namens deutete darauf hin, dass er seinem Vater nie würde das Wasser reichen können. Er blieb ein Franzi bis zu seinem Tod. Sein Vater hatte in Franzis Pubertät noch versucht, ihn als Hilfsarbeiter bei seiner Arbeitsstelle unterzubringen, musste aber schnell feststellen, dass er damit keinem von beiden einen Gefallen tat! Statt mit anzupacken und selbst die Arbeit zu sehen, musste man ihm jeden Handgriff dreimal erklären und dann war es noch nicht sicher, dass er ihn richtig ausführen würde. Franz Senior rastete regelmässig aus und es hagelte Ohrfeigen für den Jüngeren. Daraufhin verbot ihm die Frau seines Arbeitsgebers seinen Sohn noch einmal mit zur Arbeit zu bringen. Sie hatte Verständnis für den Buben, der so scheu und weltfremd neben seinem anpackenden Vater wirkte, dass sie ihn am liebsten in die Arme geschlossen und beschützt hätte.
Jedenfalls ging Franzi weiter zur Schule, schnitt dort überdurchschnittlich gut ab und wurde Lehrer. Viele Jahre lebte er noch in seinem Elternhaus, bis er in seinen späten Dreissigern eine Stelle in einer anderen Stadt antreten musste und der Auszug unvermeidlich war. Er war mehr als erleichtert, trieben ihn doch die ständigen Sticheleien und Anfeindungen seines Vaters über seine Unfähigkeit schier zur Verzweiflung. Keinen Vernunftsargumenten war der Alte zugänglich, nur Spott und Hohn für alle die schwächer waren, kamen aus ihm.
Franzi kehrte nie in sein Elternhaus zurück, obwohl Mutter, Schwester und Tanten ihn oft dazu bringen wollten. Erst bei der Beerdigung seines Vaters kam er, grüßte förmlich, gab allen die Hand und frage sie, ob es ihnen recht sei, wenn er in ein paar Jahren, nach seiner Pensionierung wieder zurück in den Ort ziehen würde. Er sei nie warm geworden mit der Großstadt, zu der sich sein Arbeits- und Wohnort entwickelt hatte und wollte seine Pension nicht dort verbringen.
Zu überrascht, um eine vernünftige Antwort zu formulieren, nickten alle und so zog Franzi knapp fünf Jahre nach dem Tod seines Vaters wieder zurück ins Heimatdorf.
Statt, wie es andere Männer seines Alters taten, seine Zeit auf kurze Spaziergänge im Ort und das Sitzen im Wirtshaus aufzuteilen, verbrachte er seine Tage zwischen Bücherei und Dorfschule. Er bot Kindern, die Schwierigkeiten in der Schule hatten, kostenlose Hilfe an, las und rechnete mit ihnen und erklärte oft ganz nebenbei das eine oder andere naturwissenschaftliche Phänomen. Er war geduldig, erwartete nichts von den Kindern, wenn sie kamen, hatte er Zeit, wenn sie fernblieben machte er ihnen keinen Vorwurf sondern saß still, selbst lesend an einem Tisch in der Bücherei.
Er wurde zu einer Einrichtung, deren Bedeutung erst so richtig auffiel, als er starb.

Nur fünfzehn Jahre hatte er seinen Vater überlebt, fünfzehn Jahre des Friedens. Dass er so plötzlich und unerwartet - naja, so richtig unerwartet war es ja nicht gewesen. Er hatte schon Wochen und Monate vor seinem Tod bemerkt, dass er schwächer wurde. Sein Herz schien oft zu flattern, er war kurzatmig und schaffte es an manchen Tagen kaum die paar Stufen zu seiner Wohnung im Hochparterre. Er ging aber bewusst nicht zu einem Arzt, weil er festgestellt hatte, dass er keinerlei Ängste vor einem vielleicht baldigem Sterben hatte. Ganz im Gegentiel. Er fand sein Leben so schön und erfüllt, er hatte so viele junge Menschen ein paar Jahre auf ihrem Lebensweg begleiten dürfen, erst als Lehrer, jetzt als Unterstützer, dass ihm nichts einfallen wollte, was er noch hätte erledigen wollen. Also beobachtete er sein Schwächerwerden mehr wie ein unbeteiligter Außenstehnder, als wie ein Betroffender. Schon zweimal hatte er nicht aufstehen können, nur ein paar Wochen vor seinem Tod. Er lag in seinem Bett und fand die Kraft nicht, sich zu erheben. Also blieb er liegen, dämmerte ein paar Stunden vor sich hin und als er einige Zeit später einen neuerlichen Anlauf nahm, klappte es, als sei nichts gewesen. Dann ging er eines Mittwochs in sein Bett, legte sich hin und wußte in dem Moment, als er die Augen schloss, dass er sie nie mehr öffnen wurde. Am nächsten Tag fand ihn seine Schwester, die auf Anfrage einer Lehrerin, die gerne ein paar Worte mit ihm gewechselt hatte, bevor er mit ihren und anderen Schülern gewisse Probleme zu beseitigen versuchte, in seine Wohnung ging. Er lag da, als hätte er sich eben hingelegt, ganz ruhig und hatte ein feines Lächeln auf seinem Gesicht. Fassungslos stand sie da und begriff erst gar nicht, dass er tot war. So wenig beängstigend, so wenig anders sah er aus, als die vielen Male zuvor, die sie ihn hatte ein Schläfchen machen sehen.

Am Tag seiner Beerdigung verging ihm dieses Lächeln allerdings schnell. Er musste er mit Entsetzen feststellen, dass sie seinen Sarg nicht nur in die Nähe, sondern direkt zu ihrem Familiengrab trugen. Verflixt, wieso hatte er nicht daran gedacht! Hätte er doch in S. wohnen bleiben sollen, um diesem Schicksal zu entgehen? Er hatte keine Lust, sich neben die Knochen und besonders neben den Sturschädel seines Vaters betten zu lassen. Was wenn der Alte da immer noch seine Ansichten mit Nachdruck durch die Erde posaunen würde? Oh nein, das durfte doch nicht wahr sein!
Aber was konnte er schon machen? Er landete schräg über dem Sarg des Alten, der schon ziemlich verrottet war.
Vielleicht bemerkt er mich ja gar nicht, wenn ich nichts sage, war die zarte Hoffnung, die ihn in den ersten Stunden seines neuen Liegeortes aufrecht hielt. Aber wenn er ehrlich war, konnte er das selbst nicht glauben. Selbst wenn er still wie ein Mäuschen blieb. Da waren die Baggerschaufel des Totengräbers, die Beerdigung mit Blasmusik und dem halben Dorf gewesen. Wer könnte da in Ruhe tot herumliegen, wenn so ein Krawall gemacht wird?

Trotzdem dauerte es einige Zeit, bis er die Stimme des Alten vernahm. Der ließ sich Zeit, wußte er doch schon um die Vor- und Nachteile der Unendlichkeit. Knarzend und und ungewohnt brüchig klang sie, aber die Worte waren so scharf, wie eh und je. Es hagelte Vorwürfe und Beschuldigungen. Der Tod hatte den Alten keineswegs milder gemacht.
Franzi hörte zu. Es blieb ihm ja auch nichts anderes übrig. Er sagte allerdings nichts und ließ den Alten auflaufen. Was wollte er denn tun? Er hatte Hemmungen, den Vater in die Schranken zu weisen. Der war ja nicht mal mehr Haut und Knochen, wie er selbst, sondern nur mehr zweiteres! Irgendwann schien der Alte zu bemerken, dass keinerlei Reaktion auf seine Schimpftiraden folgten und verstummte.
Franzi begann sich gerade zu entspannen, als die Stimme des Alten schon wieder zu hören war.
Und wie stellst du dir das jetzt vor? Sollen wir hier bis zum Sankt Nimmerleinstag herumliegen und uns anschweigen?
Das wäre vielleicht gar keine so schlechte Idee, antwortete Franzi und wunderte sich, wie einfach das Sprechen ohne Körper funktionierte.
Pah! Was weißt du denn schon! Bist gerade mal ein paar Tage hier herunten und willst mir erzählen, wie der Hase läuft? Du wirst schon sehen, wie die Unendlichkeit an dir zu nagen beginnt. Nichts los in dieser Kiste gar nichts. Da freut man sich schon über jeden Käfer und jeden Regenwurm, der kommt, um dir das letzte Fitzelchen Fleisch von den Knochen zu nagen, das kann ich dir sagen!
Dir fehlen wohl deine vielen Freunde, mit denen du dich so gerne unterhalten hast, meint Franzi darauf und wartet auf eine Reaktion.
Wie meinst du das? fragt Franz senior jetzt misstrauisch. Irgendetwas an der Stimme seines Sohnes kommt ihm seltsam vor.
Überrascht, dass der Vater nachfragt und nicht gleich aufbraust - vielleicht haben ihn die paar Jahre ja doch ein wenig milder gestimmt - beginnt Franzi ihm nun all das zu sagen, was ihn schon immer gestört hatte. Über die Überheblichkeit, die Aggressivität, die schlechte Laune, die Hau-Drauf-Mentalität des Vaters, die nach und nach alle Bekannten von ihm vertrieben hat. Von seiner Engstirnigkeit und Voreingenommenheit. Von der Boshaftigkeit seiner Familie und besonders seiner Frau gegenüber. Was er von all dem hält und wie er es empfunden hat.
Der Alte hält dagegen, wettert und versucht den Sohn zum schweigen zu bringen. Der aber hat die Lage gut im Griff, er hält dagegen, untermauert seine Behauptungen mit konkreten Ereignissen und Reaktionen aus dem Bekanntenkreis der Familie. So geht es lange hin und her. Wie lange genau, weiß keiner der beiden, denn die Zeit hat hier eine ganz andere Bedeutung, als oben in der Welt der Lebenden. Sie ist wieder das geworden, was sie immer war. Eine Erfindung der Menschen, damit nicht alles gleichzeitig passiert. Ein Gerüst, um mit sich und den anderen klarzukommen. Einen Bus zu erwischen. Im Großen und Ganzen gesehen, aber völlig unwichtig und nicht nachvollziehbar.
Irgendwann schweigen beide erschöpft.
Lange ist es still. Totenstill.
Gelegentlich hört man eine Gruppe Menschen über die Erde gehen. Da ist wahrscheinlich in einem anderen Teil des Friedhofs eine Beerdigung. Entferntes Klopfen könnte das Ausheben eines neuen Grabes bedeuten. Eines schönen Frühlingsnachmittages wird es laut. Richtig laut. Die Grabstelle neben der ihren wird wohl geöffnet, es rumpelt und brummt, die Erde kommt in Bewegung, rutscht und kollert.
Wochen, Monate und Jahre sind vergangen, seit sie das letzte Wort miteinander gesprochen haben. Franzi hat begonnen, die Regenwürmer zu zählen. Er mochte sie schon immer und freut sich über jeden einzelnen. Je fetter, umso besser. Franz Senior tut gar nichts. Das hat er in den letzten Jahrzehnten so perfektioniert, dass es ihm leichtfällt. Fast schafft er es, den Sohn zu vergessen, als es an diesem einen Tag so ungemütlich laut wird. Und durch die Arbeiten nur zwei Meter weiter, beginnt das Erdreich zu arbeiten. Er spürt, wie er nach links oben weggedrückt wird. Sapperlot, was soll denn das jetzt? Dort drüben liegt doch sein missratener Sohn! Soll er versuchen, sich der Erde entgegenzustemmen? Er versucht es, strengt sich an, tut sein Bestes, aber nichtsdestotrotz landet sein Schädel genau neben dem seines Sohnes.
Und so liegen sie jetzt Auge in Auge - oder besser gesagt, Augenhöhle in Augenhöhnle, einander gegenüber. Mustern sich, schweigen weiter.
Bis das unglaubliche passiert. Franz Senior beginnt zu kichern. Erst noch ganz leise und heimlich, dann lauter und lauter. Franzi ist verwirrt. Er kann sich nicht erinnern, seinen Vater jemals lachen gehört zu haben. Erst ignoriert er es, aber irgendwann spürt er selbst, wie es in seinem Bauch - oder zumindest in der Gegend, in der früher sein Bauch war - zu kitzeln beginnt und ohne es zu wollen, kichert er mit.
Dann sind sie wieder ganz still. Schon wieder eine neue Situation für sie beide. Nach einiger Zeit spüren sie, dass sie weiter bewegt werden. Erst dreht sich der Eine zur Seite, der andere wandert im Erdreich nach oben.
Keine Ruhe hat man hier, sagt Franz Senior irgendwann. Es klingt aber nicht mehr so grantig, wie früher. Eher belustigt.
Franzi steigt darauf ein. Wenn das so weitergeht, werden wir eines Tages oder vielleicht besser des nächtens bis an die Oberfläche kommen und durch die Gegend kullern.
Ja, stell dir vor, wie blöd sie dann schauen würden. Die scheinheiligen Friedhofstanten, die ihre Männer besuchen, die sie selbst unter die Erde gebracht haben.
Und so kommt es eines Tages auch wirklich. Erst glaubt Franzi noch an eine Sinnestäuschung, als es so hell und warm auf seine rechte Seite scheint, dann stellt er fest - das ist die Sonne! Zwar eine bleiche Wintersonne, aber wer sie so lange nicht gespürt hat, weiß auch sie zu schätzen.
Ich bin draußen, ruft er aufgeregt seinem Vater zu, den er in seiner momentanen Lage gerade nicht sehen kann.
Das weiß ich, ich warte hier ja schon seit Unzeiten auf dich, kommt es von dem anderen zurück. Und wirklich. Franz Senior wurde schon etwas früher hochgehoben und liegt schon zu dreiviertel an der frischen, kalten Winterluft.
Mit der Jahreszeit haben sie Glück und Pech.
Das Glück, dass sie länger unentdeckt bleiben könnten, weil weniger Besucher zu dieser Jahreszeit am Friedhof sind, das Pech, dass sie leichter gesehen werden, weil sie sich nicht in hohes Gras oder in blühenden Blumeninseln verstecken können.
Das Glück, dass das vorankommen für zwei beinlose Wesen wie sie auf der glatten Oberfläche leichter ist, das Pech, dass Schädelknochen kein Profil haben und auf der Glätte leicht mal ins rutschen geraten. All das stellen sie gleich in den ersten Stunden ihrer neuen Freiheit fest.

Die Schädel machen sich auf den Weg, bergab geht leicht, bergauf braucht es schon eine ganze Menge Willen und Anstrengung. Roll du mal bergauf, wenn du keinen Körper, keine Arme und Beine mehr hast. Das gemeinsame rumkullern hat etwas sehr entspannendes an sich . Da werden sie beide ruhig und bewegen sich einträchtig nebeneinander fort. Passen auf, dass sie in keinen Straßengraben rollen, dass niemand sie sieht und schauen sich die Gegend an. Das klingt jetzt erst mal nicht so toll oder gar aufregend, aber für jemanden, der jahre- und jahrzehntelang unter der Erde gelegen ist, kann so ein "ereignisloser" Ausflug auch ganz schon abwechslungsreich sein.
Ein Mal hat der Franz senior nicht aufgepasst. Da sind sie die ganze lange Steigung zum Müllner Hügel vor sich hingekullert. Nachts natürlich, da ist weniger los und die Gefahr, dass ein Passant sie entdeckt, geringer. Die Betrunkenen glauben schon an eine Halluzination, Autofahrer achten sowieso auf nichts, was unter der Höhe ihrer Stoßstange ist. Und dann ist was ganz Blödes passiert. Fast hätte er es schon geschafft gehabt - der Juniorschädel war schon oben. Das triumphierende Grinsen traute er sich aber nicht mehr aufzusetzen, seit der Alte ihm dafür vor kurzem einen Ast in die Augehöhle gesteckt hat. Wie der gebremst hat! Beinahe hätte es ihn ausgehebelt! Da war der Alte in der Zwischenzeit einfach weiter gegangen. Boshaft grinsend, denn ein paar Zähne baumelten noch immer in dem Kiefer. Wie auch immer.
Jedenfalls war die Situation dieses mal viel gefährlicher. Er konnte es noch nicht sehen, aber irgendetwas bedrohliches lag in der Luft. Dann sah er sie. Eine Katze. Ein Monster! Groß, wie eine Brotdose, wie ein Kopfpolster, wie ein ausgewachsener Pudel! Fett und boshaft. Ihre Augen blitzten im Schein der Straßenlaterne. Sie saß ganz dicht an eine Hausmauer gedrückt und beobachtete sie. Regungslos, wie es diesen Raubtieren eigen war, aber höchst konzentriert. Schon als junger Bub war er fasziniert von der Ausdauer dieser Tiere gewesen, die stundenlang völlig regungslos vor einem Mauseloch sitzen konnten, um dann, wenn das arme Opfertier darin sich sicher fühlte, weil es keinen Lufthauch einer Anwesenheit des des Feindes registrieren konnte, langsam und vorsichtig seinen Kopf aus dem Mauseloch streckte, erst millimeterweise, dann forscher etwas weiter und sich in falscher Sicherheit wähnend ganz herauskam, und in der gleichen Sekunde vom Fressfeind geschnappt und mit einem Biss so stark verletzt wurde, dass der Fluchttrieb, der stärker ist , als der Schmerz zwar noch dafür sorgte, dass das Opfertier, kaum den Zähnen und dieser rauen Zunge entkommen davon läuft oder es zumindest versucht, um wieder und wieder geschnappt, gebissen, durch die Luft geworfen und von den Tatzen hin und her geschubst zu werden, wie eine Billardkugel. Die Katze war unerbittlich und grausam. Völlig gefangen in ihrem tödlichen Spiel und schwerst beleidigt, wenn man ihr ihr Spielzeug wegnahm oder sie selbst verjagte. Und auch heute sah er in dem Blick der Riesenkatze - wahrscheinlich kam sie ihm nur deshalb so groß vor, weil er selbst nicht mehr in knapp einem Meter achtzig über dem Boden schwebte, sonder über denselbigen rollte, wie eine - Ja, wie eine unförmige Billardkugel. Er war schon bei dem Tier vorbei, aber sein langsamer Vater kam gerade auf die gleiche Höhe, schien schon am Ende seiner Kräfte zu sein, wurde langsamer. Beinahe schien die Katze schon das Interesse zu verlieren, weil sie nur an sich bewegendem Spielzeug / Opfern interessiert war, da gab sich der Seniorschädel einen Ruck und beschleunigte ein letztes Mal den Hügel hinauf. Genau in diesem Moment sprang sie auf ihn zu und kickte ihn mit der rechten vorderen Tatze quer über die Straße. Der Senior - von diesem Angriff völlig überrascht - kullerte hilflos in die Mitte der Straße, um dort in einer äußerst ungünstigen Position auszueiern, ein wenig hin und her zu rollen und dann liegen zu bleiben. Wäre jetzt ein Auto oder gar ein Bus oder LKW gekommen, hätte das linke Rad ihn wohl genau erwischt und zerquetscht, zersplittert und zerstört. In dieser Hinsicht aber hatte er Glück und so war es an der Katze, ihm den Garaus zu machen. Erst wartete sie ab, ob er sich aus eigener Kraft wieder zu bewegen beginnen würde, dann schlich sie langsam näher und setzte sich neben ihn. Der Junior hielt die Luft an - sofern ein Totenschädel das kann, aber die Gefühlsregungen der beiden sind ja ohnehin mehr metaphorisch gemeint, als real. Die Katze sah auf ihr neues Spielzeug hinab und der Senior beschloss es mit der Totstelltaktik zu versuchen. Das hatte doch während seines Lebens auch gelegentlich funktioniert. Keine Regung zeigen, schon gar keine Angst. Kein Fluchtversuch. Die Katze wartete, der Sohn wollte schon näher rollen, um sie eventuell abzulenken, da fiel ihm ein, dass der Vater in einer äußerst ungünstigen Position lag. Er konnte zwar willentlich vor sich hin rollen - auch bergan, aber es war unmöglich für ihn, bergab zu bremsen. Da hätte er ein stehendes Hindernis gebraucht, auf das er zurollen kann. Das gab es hier nicht - oder doch? Was, wenn er den Vater genau erwischen würde? Dann würde der Aufprall den Alten nach unten schubsen, er wäre abgebremst und... naja, die Katze hätte zwei bewegliche Spielzeuge, auf die sie losgehen könnte, das wäre zwar lustig für sie, aber blöd für die zum Katzenunterhaltungsutensil degradierten Schädel. Also rührte er sich erst mal nicht. Seine Hilfsbereitschaft war doch nicht so groß, dass er sich selbst in diese unangenehme Lage bringen wollte. Er würde jetzt erst mal abwarten und beobachten. So wie die Katze. Die konnte es gar nicht fassen, dass das seltsame Kullerding, das gerade so schön herumgerollt war, sich nun nicht mehr bewegte. Mit der linken Tatze stupste sie es vorsichtig an, aber da der Senior gerade auf seinem Unterkiefer ziemlich stabil lag, passierte nichts. Nur ein kleines Wackeln der noch vorhandenen Zähne. Aber so schnell wollte sie nicht aufgeben und so setzte sie mit der rechten Pfoten noch eines nach. Und da dieser Schlag nun von oben kam reichte er aus, um den Schädel erst langsam, dann schneller wieder den Hügel hinunterkullern zu lassen und damit den Jagdtrieb der Katze zu wecken. Sie sprang nach, schubste und versuchte in das neue Spielzeug zu beißen, musste aber enttäuscht feststellen, dass das sehr hart und gar nicht quietschig war. So hörte sie nach kurzer Zeit wieder auf, sah den jetzt an eine Hausmauer gerollten Schädel noch eine Zeitlang an und schlich dann enttäuscht von dannen. Der Sohn hatte das ganze von seiner Position am höchsten Punkt mitangesehen und wartete auf eine Reaktion. Da kam nichts.
Hat es dem Alten jetzt die Sprache verschlagen? Er will gerade losrollen, um zu sehen, was mit ihm geschehen ist, als er ganz laut und deutlich hört:
Ich hasse Katzen!
Franzi grinst. Dieser Satz war ein geflügeltes Wort in ihrer Familie gewesen. Wann auch immer sie gemeinsam unterwegs gewesen waren und dabei eine Katze sahen, knurrte der Vater auf der Stelle diese Worte. Er schmetterte jedes Gegenargument ab und blieb sein Leben lang ein Katzenhasser. Jetzt hatte er noch einen Grund mehr. Aber dann geschah etwas unvorhersehbares. Franzi hört ein seltsames Geräusch. Es kommt ganz eindeutig von dem Seniorschädel und es klingt, als ob...
Er lacht.
Er lacht wirklich! Nicht freudig und melodiös sondern kurz und abgehackt, aber er lacht und hört gar nicht mehr auf. Franzi reißt die Augen auf und schaut ungläubig.
Diese Mistviecher! Ich hab es doch immer schon gesagt, die taugen nichts. Ach das war ja klar, dass sie mich erwischt.
Schön langsam verebbt das Lachen wieder.
Komm Franzi, wir gehen zurück. Mir reicht es für heute mit unserem Ausflug.
Und gemeinsam kullern sie gemächlich wieder zurück zum Friedhof, wo sie in der Nähe ihres Grabes unter einem Busch den Tag unentdeckt verbringen werden, bis sie zu ihrem nächsten gemeinsamen Nachtabenteuer aufbrechen.

2 Kommentare:

  1. Hihi, sehr speziell Deine Story. Mir droht so eine späte und langwierige Zweisamkeit ja nicht, ich glaube das ist auch gut so :-)

    Liebe Grüße
    Volker

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    1. Danke, lieber Volker!
      Die Geschichte beruht auf einem wahren Erlebnis, das mir mal in der Arbeit erzählt wurde, dass nämlich durch unvorsichtiges Ausheben eines Grabes ein schon bestatteter Schädel an die Oberfläche kam. Tja und da lief bei mir dann gleich der Film im Kopf los! ;)
      "Droht" dir kein Familengrab? Auch beruhigend, oder? :)

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