Schon
seit Jahren und Jahrzehnten liegen die beiden, die schon zu Lebzeiten
mehr Unstimmigkeiten hatten, als harmonische Momente, nebeneinander
im Grab. Da wurde nicht gefragt, nicht lange gefackelt. Das
Familiengrab ist da, also wird es auch genutzt. Hätten die Lebenden
gewusst, welche Ereignisse sie dadurch auslösen würden, hätten sie
diese Entscheidung vielleicht noch einmal überdacht.
Aber
das ist Jahre her.
Siebzehn
Jahre bei dem einen - er wurde nicht alt. Mit 73 beschloss sein Herz,
dass genug sei und hörte auf zu schlagen.
Vierunddreißig
Jahre beim anderen. Er war eines Nachts auf dem Heimweg vom
Stammtisch auf einer leicht abschüssigen Stelle ausgerutscht oder
gestolpert und mit dem Kopf so unglücklich auf einen spitzen Stein
einer kleinen Mauer gestürzt, dass er wohl auf der Stelle tot war.
Ob dabei der Alkohol eine Rolle gespielt hatte oder nicht, wurde
nicht diskutiert. Ein bedauerlicher Unfall, den trotzdem viele mit
einem leisen Aufatmen quittierten, steigerten sich die
Zornesausbrüche des Alten in seinen letzten Lebensjahren doch
exorbitant. Aus den nichtigsten Gründen konnte er, der sein Leben
lang schon cholerisch gewesen war, beginnen zu schreien und zu toben,
Frau, Sohn und Enkelkinder zu beschimpfen und danach zornig Richtung
Wirtshaus stapfen. Auch dort hatte er gelegentlich einen seiner
Wutausbrüche gehabt, allerdings nur bis zu dem Tag, an dem Anita,
die Kellnerin ihn so harsch am vollen Stammtisch zurechtgewiesen hat,
dass ihm mitten drin einfach die Stimme wegblieb und es in der ganzen
Wirtsstube für einen kurzen Moment so still war, dass man eine Nadel
hätte fallen hören. Seit dem zeigte er sich dort
grummelig-versöhnlich und brachte gelegentlich sogar ein kleines
Lächeln zustande, wenn er seine Halbe Bier in seinem Steinkrug
unaufgefordert vor sich hingestellt bekam.
Franz
der Ältere, nennen wir ihn Franz Senior war Tischler gewesen.
Allerdings hatte er den Großteil seines Lebens als Hilfskraft
gearbeitet. Erst bei einem Großbauern, dann bei dessen Bruder, der
eine Baufirma gründete. Natürlich hatte er immer Tischler- und
Schreinerarbeiten übernommen, wenn welche angefallen waren, aber
genauso oft hatte er am Feld oder später auf der Baustelle geholfen,
wo Not am Mann war. Er konnte alles, was man ihm einmal gezeigt hatte
und führte jede handwerkliche Arbeit aus, als hätte er sie von der
Pieke auf erlernt.
Ganz
anders sein Sohn Franzi. Schon die Verkleinerung seines Namens
deutete darauf hin, dass er seinem Vater nie würde das Wasser
reichen können. Er blieb ein Franzi bis zu seinem Tod. Sein Vater
hatte in Franzis Pubertät noch versucht, ihn als Hilfsarbeiter bei
seiner Arbeitsstelle unterzubringen, musste aber schnell feststellen,
dass er damit keinem von beiden einen Gefallen tat! Statt mit
anzupacken und selbst die Arbeit zu sehen, musste man ihm jeden
Handgriff dreimal erklären und dann war es noch nicht sicher, dass
er ihn richtig ausführen würde. Franz Senior rastete regelmässig
aus und es hagelte Ohrfeigen für den Jüngeren. Daraufhin verbot ihm
die Frau seines Arbeitsgebers seinen Sohn noch einmal mit zur Arbeit
zu bringen. Sie hatte Verständnis für den Buben, der so scheu und
weltfremd neben seinem anpackenden Vater wirkte, dass sie ihn am
liebsten in die Arme geschlossen und beschützt hätte.
Jedenfalls
ging Franzi weiter zur Schule, schnitt dort überdurchschnittlich gut
ab und wurde Lehrer. Viele Jahre lebte er noch in seinem Elternhaus,
bis er in seinen späten Dreissigern eine Stelle in einer anderen
Stadt antreten musste und der Auszug unvermeidlich war. Er war mehr
als erleichtert, trieben ihn doch die ständigen Sticheleien und
Anfeindungen seines Vaters über seine Unfähigkeit schier zur
Verzweiflung. Keinen Vernunftsargumenten war der Alte zugänglich,
nur Spott und Hohn für alle die schwächer waren, kamen aus ihm.
Franzi
kehrte nie in sein Elternhaus zurück, obwohl Mutter, Schwester und
Tanten ihn oft dazu bringen wollten. Erst bei der Beerdigung seines
Vaters kam er, grüßte förmlich, gab allen die Hand und frage sie,
ob es ihnen recht sei, wenn er in ein paar Jahren, nach seiner
Pensionierung wieder zurück in den Ort ziehen würde. Er sei nie
warm geworden mit der Großstadt, zu der sich sein Arbeits- und
Wohnort entwickelt hatte und wollte seine Pension nicht dort
verbringen.
Zu
überrascht, um eine vernünftige Antwort zu formulieren, nickten
alle und so zog Franzi knapp fünf Jahre nach dem Tod seines Vaters
wieder zurück ins Heimatdorf.
Statt,
wie es andere Männer seines Alters taten, seine Zeit auf kurze
Spaziergänge im Ort und das Sitzen im Wirtshaus aufzuteilen,
verbrachte er seine Tage zwischen Bücherei und Dorfschule. Er bot
Kindern, die Schwierigkeiten in der Schule hatten, kostenlose Hilfe
an, las und rechnete mit ihnen und erklärte oft ganz nebenbei das
eine oder andere naturwissenschaftliche Phänomen. Er war geduldig,
erwartete nichts von den Kindern, wenn sie kamen, hatte er Zeit, wenn
sie fernblieben machte er ihnen keinen Vorwurf sondern saß still,
selbst lesend an einem Tisch in der Bücherei.
Er
wurde zu einer Einrichtung, deren Bedeutung erst so richtig auffiel,
als er starb.
Nur
fünfzehn Jahre hatte er seinen Vater überlebt, fünfzehn Jahre des
Friedens. Dass er so plötzlich und unerwartet - naja, so richtig
unerwartet war es ja nicht gewesen. Er hatte schon Wochen und Monate
vor seinem Tod bemerkt, dass er schwächer wurde. Sein Herz schien
oft zu flattern, er war kurzatmig und schaffte es an manchen Tagen
kaum die paar Stufen zu seiner Wohnung im Hochparterre. Er ging aber
bewusst nicht zu einem Arzt, weil er festgestellt hatte, dass er
keinerlei Ängste vor einem vielleicht baldigem Sterben hatte. Ganz
im Gegentiel. Er fand sein Leben so schön und erfüllt, er hatte so
viele junge Menschen ein paar Jahre auf ihrem Lebensweg begleiten
dürfen, erst als Lehrer, jetzt als Unterstützer, dass ihm nichts
einfallen wollte, was er noch hätte erledigen wollen. Also
beobachtete er sein Schwächerwerden mehr wie ein unbeteiligter
Außenstehnder, als wie ein Betroffender. Schon zweimal hatte er
nicht aufstehen können, nur ein paar Wochen vor seinem Tod. Er lag
in seinem Bett und fand die Kraft nicht, sich zu erheben. Also blieb
er liegen, dämmerte ein paar Stunden vor sich hin und als er einige
Zeit später einen neuerlichen Anlauf nahm, klappte es, als sei
nichts gewesen. Dann ging er eines Mittwochs in sein Bett, legte sich
hin und wußte in dem Moment, als er die Augen schloss, dass er sie
nie mehr öffnen wurde. Am nächsten Tag fand ihn seine Schwester,
die auf Anfrage einer Lehrerin, die gerne ein paar Worte mit ihm
gewechselt hatte, bevor er mit ihren und anderen Schülern gewisse
Probleme zu beseitigen versuchte, in seine Wohnung ging. Er lag da,
als hätte er sich eben hingelegt, ganz ruhig und hatte ein feines
Lächeln auf seinem Gesicht. Fassungslos stand sie da und begriff
erst gar nicht, dass er tot war. So wenig beängstigend, so wenig
anders sah er aus, als die vielen Male zuvor, die sie ihn hatte ein
Schläfchen machen sehen.
Am
Tag seiner Beerdigung verging ihm dieses Lächeln allerdings schnell.
Er musste er mit Entsetzen feststellen, dass sie seinen Sarg nicht
nur in die Nähe, sondern direkt zu ihrem Familiengrab trugen.
Verflixt, wieso hatte er nicht daran gedacht! Hätte er doch in S.
wohnen bleiben sollen, um diesem Schicksal zu entgehen? Er hatte
keine Lust, sich neben die Knochen und besonders neben den
Sturschädel seines Vaters betten zu lassen. Was wenn der Alte da
immer noch seine Ansichten mit Nachdruck durch die Erde posaunen
würde? Oh nein, das durfte doch nicht wahr sein!
Aber
was konnte er schon machen? Er landete schräg über dem Sarg des
Alten, der schon ziemlich verrottet war.
Vielleicht
bemerkt er mich ja gar nicht, wenn ich nichts sage, war die zarte
Hoffnung, die ihn in den ersten Stunden seines neuen Liegeortes
aufrecht hielt. Aber wenn er ehrlich war, konnte er das selbst nicht
glauben. Selbst wenn er still wie ein Mäuschen blieb. Da waren die
Baggerschaufel des Totengräbers, die Beerdigung mit Blasmusik und
dem halben Dorf gewesen. Wer könnte da in Ruhe tot herumliegen, wenn
so ein Krawall gemacht wird?
Trotzdem
dauerte es einige Zeit, bis er die Stimme des Alten vernahm. Der ließ
sich Zeit, wußte er doch schon um die Vor- und Nachteile der
Unendlichkeit. Knarzend und und ungewohnt brüchig klang sie, aber
die Worte waren so scharf, wie eh und je. Es hagelte Vorwürfe und
Beschuldigungen. Der Tod hatte den Alten keineswegs milder gemacht.
Franzi
hörte zu. Es blieb ihm ja auch nichts anderes übrig. Er sagte
allerdings nichts und ließ den Alten auflaufen. Was wollte er denn
tun? Er hatte Hemmungen, den Vater in die Schranken zu weisen. Der
war ja nicht mal mehr Haut und Knochen, wie er selbst, sondern nur
mehr zweiteres! Irgendwann schien der Alte zu bemerken, dass
keinerlei Reaktion auf seine Schimpftiraden folgten und verstummte.
Franzi
begann sich gerade zu entspannen, als die Stimme des Alten schon
wieder zu hören war.
Und
wie stellst du dir das jetzt vor? Sollen wir hier bis zum Sankt
Nimmerleinstag herumliegen und uns anschweigen?
Das
wäre vielleicht gar keine so schlechte Idee, antwortete Franzi und
wunderte sich, wie einfach das Sprechen ohne Körper funktionierte.
Pah!
Was weißt du denn schon! Bist gerade mal ein paar Tage hier herunten
und willst mir erzählen, wie der Hase läuft? Du wirst schon sehen,
wie die Unendlichkeit an dir zu nagen beginnt. Nichts los in dieser
Kiste gar nichts. Da freut man sich schon über jeden Käfer und
jeden Regenwurm, der kommt, um dir das letzte Fitzelchen Fleisch von
den Knochen zu nagen, das kann ich dir sagen!
Dir
fehlen wohl deine vielen Freunde, mit denen du dich so gerne
unterhalten hast, meint Franzi darauf und wartet auf eine Reaktion.
Wie
meinst du das? fragt Franz senior jetzt misstrauisch. Irgendetwas an
der Stimme seines Sohnes kommt ihm seltsam vor.
Überrascht,
dass der Vater nachfragt und nicht gleich aufbraust - vielleicht
haben ihn die paar Jahre ja doch ein wenig milder gestimmt - beginnt
Franzi ihm nun all das zu sagen, was ihn schon immer gestört hatte.
Über die Überheblichkeit, die Aggressivität, die schlechte Laune,
die Hau-Drauf-Mentalität des Vaters, die nach und nach alle
Bekannten von ihm vertrieben hat. Von seiner Engstirnigkeit und
Voreingenommenheit. Von der Boshaftigkeit seiner Familie und
besonders seiner Frau gegenüber. Was er von all dem hält und wie er
es empfunden hat.
Der
Alte hält dagegen, wettert und versucht den Sohn zum schweigen zu
bringen. Der aber hat die Lage gut im Griff, er hält dagegen,
untermauert seine Behauptungen mit konkreten Ereignissen und
Reaktionen aus dem Bekanntenkreis der Familie. So geht es lange hin
und her. Wie lange genau, weiß keiner der beiden, denn die Zeit hat
hier eine ganz andere Bedeutung, als oben in der Welt der Lebenden.
Sie ist wieder das geworden, was sie immer war. Eine Erfindung der
Menschen, damit nicht alles gleichzeitig passiert. Ein Gerüst, um
mit sich und den anderen klarzukommen. Einen Bus zu erwischen. Im
Großen und Ganzen gesehen, aber völlig unwichtig und nicht
nachvollziehbar.
Irgendwann
schweigen beide erschöpft.
Lange
ist es still. Totenstill.
Gelegentlich
hört man eine Gruppe Menschen über die Erde gehen. Da ist
wahrscheinlich in einem anderen Teil des Friedhofs eine Beerdigung.
Entferntes Klopfen könnte das Ausheben eines neuen Grabes bedeuten.
Eines schönen Frühlingsnachmittages wird es laut. Richtig laut. Die
Grabstelle neben der ihren wird wohl geöffnet, es rumpelt und
brummt, die Erde kommt in Bewegung, rutscht und kollert.
Wochen,
Monate und Jahre sind vergangen, seit sie das letzte Wort miteinander
gesprochen haben. Franzi hat begonnen, die Regenwürmer zu zählen.
Er mochte sie schon immer und freut sich über jeden einzelnen. Je
fetter, umso besser. Franz Senior tut gar nichts. Das hat er in den
letzten Jahrzehnten so perfektioniert, dass es ihm leichtfällt. Fast
schafft er es, den Sohn zu vergessen, als es an diesem einen Tag so
ungemütlich laut wird. Und durch die Arbeiten nur zwei Meter weiter,
beginnt das Erdreich zu arbeiten. Er spürt, wie er nach links oben
weggedrückt wird. Sapperlot, was soll denn das jetzt? Dort drüben
liegt doch sein missratener Sohn! Soll er versuchen, sich der Erde
entgegenzustemmen? Er versucht es, strengt sich an, tut sein Bestes,
aber nichtsdestotrotz landet sein Schädel genau neben dem seines
Sohnes.
Und
so liegen sie jetzt Auge in Auge - oder besser gesagt, Augenhöhle in
Augenhöhnle, einander gegenüber. Mustern sich, schweigen weiter.
Bis
das unglaubliche passiert. Franz Senior beginnt zu kichern. Erst noch
ganz leise und heimlich, dann lauter und lauter. Franzi ist verwirrt.
Er kann sich nicht erinnern, seinen Vater jemals lachen gehört zu
haben. Erst ignoriert er es, aber irgendwann spürt er selbst, wie es
in seinem Bauch - oder zumindest in der Gegend, in der früher sein
Bauch war - zu kitzeln beginnt und ohne es zu wollen, kichert er mit.
Dann
sind sie wieder ganz still. Schon wieder eine neue Situation für sie
beide. Nach einiger Zeit spüren sie, dass sie weiter bewegt werden.
Erst dreht sich der Eine zur Seite, der andere wandert im Erdreich
nach oben.
Keine
Ruhe hat man hier, sagt Franz Senior irgendwann. Es klingt aber nicht
mehr so grantig, wie früher. Eher belustigt.
Franzi
steigt darauf ein. Wenn das so weitergeht, werden wir eines Tages
oder vielleicht besser des nächtens bis an die Oberfläche kommen
und durch die Gegend kullern.
Ja,
stell dir vor, wie blöd sie dann schauen würden. Die scheinheiligen
Friedhofstanten, die ihre Männer besuchen, die sie selbst unter die
Erde gebracht haben.
Und
so kommt es eines Tages auch wirklich. Erst glaubt Franzi noch an
eine Sinnestäuschung, als es so hell und warm auf seine rechte Seite
scheint, dann stellt er fest - das ist die Sonne! Zwar eine
bleiche Wintersonne, aber wer sie so lange nicht gespürt hat, weiß
auch sie zu schätzen.
Ich
bin draußen, ruft er aufgeregt seinem Vater zu, den er in seiner
momentanen Lage gerade nicht sehen kann.
Das
weiß ich, ich warte hier ja schon seit Unzeiten auf dich, kommt es
von dem anderen zurück. Und wirklich. Franz Senior wurde schon etwas
früher hochgehoben und liegt schon zu dreiviertel an der frischen,
kalten Winterluft.
Mit
der Jahreszeit haben sie Glück und Pech.
Das
Glück, dass sie länger unentdeckt bleiben könnten, weil weniger
Besucher zu dieser Jahreszeit am Friedhof sind, das Pech, dass sie
leichter gesehen werden, weil sie sich nicht in hohes Gras oder in
blühenden Blumeninseln verstecken können.
Das
Glück, dass das vorankommen für zwei beinlose Wesen wie sie auf der
glatten Oberfläche leichter ist, das Pech, dass Schädelknochen
kein Profil haben und auf der Glätte leicht mal ins rutschen
geraten. All das stellen sie gleich in den ersten Stunden ihrer neuen
Freiheit fest.
Die
Schädel machen sich auf den Weg, bergab geht leicht, bergauf braucht
es schon eine ganze Menge Willen und Anstrengung. Roll du mal
bergauf, wenn du keinen Körper, keine Arme und Beine mehr hast. Das
gemeinsame rumkullern hat etwas sehr entspannendes an sich . Da
werden sie beide ruhig und bewegen sich einträchtig nebeneinander
fort. Passen auf, dass sie in keinen Straßengraben rollen, dass
niemand sie sieht und schauen sich die Gegend an. Das klingt jetzt
erst mal nicht so toll oder gar aufregend, aber für jemanden, der
jahre- und jahrzehntelang unter der Erde gelegen ist, kann so ein
"ereignisloser" Ausflug auch ganz schon abwechslungsreich
sein.
Ein
Mal hat der Franz senior nicht aufgepasst. Da sind sie die ganze
lange Steigung zum Müllner Hügel vor sich hingekullert. Nachts
natürlich, da ist weniger los und die Gefahr, dass ein Passant sie
entdeckt, geringer. Die Betrunkenen glauben schon an eine
Halluzination, Autofahrer achten sowieso auf nichts, was unter der
Höhe ihrer Stoßstange ist. Und dann ist was ganz Blödes passiert.
Fast hätte er es schon geschafft gehabt - der Juniorschädel war
schon oben. Das triumphierende Grinsen traute er sich aber nicht mehr
aufzusetzen, seit der Alte ihm dafür vor kurzem einen Ast in die
Augehöhle gesteckt hat. Wie der gebremst hat! Beinahe hätte es ihn
ausgehebelt! Da war der Alte in der Zwischenzeit einfach weiter
gegangen. Boshaft grinsend, denn ein paar Zähne baumelten noch immer
in dem Kiefer. Wie auch immer.
Jedenfalls
war die Situation dieses mal viel gefährlicher. Er konnte es noch
nicht sehen, aber irgendetwas bedrohliches lag in der Luft. Dann sah
er sie. Eine Katze. Ein Monster! Groß, wie eine Brotdose, wie ein
Kopfpolster, wie ein ausgewachsener Pudel! Fett und boshaft. Ihre
Augen blitzten im Schein der Straßenlaterne. Sie saß ganz dicht an
eine Hausmauer gedrückt und beobachtete sie. Regungslos, wie es
diesen Raubtieren eigen war, aber höchst konzentriert. Schon als
junger Bub war er fasziniert von der Ausdauer dieser Tiere gewesen,
die stundenlang völlig regungslos vor einem Mauseloch sitzen
konnten, um dann, wenn das arme Opfertier darin sich sicher fühlte,
weil es keinen Lufthauch einer Anwesenheit des des Feindes
registrieren konnte, langsam und vorsichtig seinen Kopf aus dem
Mauseloch streckte, erst millimeterweise, dann forscher etwas weiter
und sich in falscher Sicherheit wähnend ganz herauskam, und in der
gleichen Sekunde vom Fressfeind geschnappt und mit einem Biss so
stark verletzt wurde, dass der Fluchttrieb, der stärker ist , als
der Schmerz zwar noch dafür sorgte, dass das Opfertier, kaum den
Zähnen und dieser rauen Zunge entkommen davon läuft oder es
zumindest versucht, um wieder und wieder geschnappt, gebissen, durch
die Luft geworfen und von den Tatzen hin und her geschubst zu werden,
wie eine Billardkugel. Die Katze war unerbittlich und grausam. Völlig
gefangen in ihrem tödlichen Spiel und schwerst beleidigt, wenn man
ihr ihr Spielzeug wegnahm oder sie selbst verjagte. Und auch heute
sah er in dem Blick der Riesenkatze - wahrscheinlich kam sie ihm nur
deshalb so groß vor, weil er selbst nicht mehr in knapp einem Meter
achtzig über dem Boden schwebte, sonder über denselbigen rollte,
wie eine - Ja, wie eine unförmige Billardkugel. Er war schon bei dem
Tier vorbei, aber sein langsamer Vater kam gerade auf die gleiche
Höhe, schien schon am Ende seiner Kräfte zu sein, wurde langsamer.
Beinahe schien die Katze schon das Interesse zu verlieren, weil sie
nur an sich bewegendem Spielzeug / Opfern interessiert war, da gab
sich der Seniorschädel einen Ruck und beschleunigte ein letztes Mal
den Hügel hinauf. Genau in diesem Moment sprang sie auf ihn zu und
kickte ihn mit der rechten vorderen Tatze quer über die Straße. Der
Senior - von diesem Angriff völlig überrascht - kullerte hilflos in
die Mitte der Straße, um dort in einer äußerst ungünstigen
Position auszueiern, ein wenig hin und her zu rollen und dann liegen
zu bleiben. Wäre jetzt ein Auto oder gar ein Bus oder LKW gekommen,
hätte das linke Rad ihn wohl genau erwischt und zerquetscht,
zersplittert und zerstört. In dieser Hinsicht aber hatte er Glück
und so war es an der Katze, ihm den Garaus zu machen. Erst wartete
sie ab, ob er sich aus eigener Kraft wieder zu bewegen beginnen
würde, dann schlich sie langsam näher und setzte sich neben ihn.
Der Junior hielt die Luft an - sofern ein Totenschädel das kann,
aber die Gefühlsregungen der beiden sind ja ohnehin mehr
metaphorisch gemeint, als real. Die Katze sah auf ihr neues Spielzeug
hinab und der Senior beschloss es mit der Totstelltaktik zu
versuchen. Das hatte doch während seines Lebens auch gelegentlich
funktioniert. Keine Regung zeigen, schon gar keine Angst. Kein
Fluchtversuch. Die Katze wartete, der Sohn wollte schon näher
rollen, um sie eventuell abzulenken, da fiel ihm ein, dass der Vater
in einer äußerst ungünstigen Position lag. Er konnte zwar
willentlich vor sich hin rollen - auch bergan, aber es war unmöglich
für ihn, bergab zu bremsen. Da hätte er ein stehendes Hindernis
gebraucht, auf das er zurollen kann. Das gab es hier nicht - oder
doch? Was, wenn er den Vater genau erwischen würde? Dann würde der
Aufprall den Alten nach unten schubsen, er wäre abgebremst und...
naja, die Katze hätte zwei bewegliche Spielzeuge, auf die sie
losgehen könnte, das wäre zwar lustig für sie, aber blöd für die
zum Katzenunterhaltungsutensil degradierten Schädel. Also rührte er
sich erst mal nicht. Seine Hilfsbereitschaft war doch nicht so groß,
dass er sich selbst in diese unangenehme Lage bringen wollte. Er
würde jetzt erst mal abwarten und beobachten. So wie die Katze. Die
konnte es gar nicht fassen, dass das seltsame Kullerding, das gerade
so schön herumgerollt war, sich nun nicht mehr bewegte. Mit der
linken Tatze stupste sie es vorsichtig an, aber da der Senior gerade
auf seinem Unterkiefer ziemlich stabil lag, passierte nichts. Nur ein
kleines Wackeln der noch vorhandenen Zähne. Aber so schnell wollte
sie nicht aufgeben und so setzte sie mit der rechten Pfoten noch
eines nach. Und da dieser Schlag nun von oben kam reichte er aus, um
den Schädel erst langsam, dann schneller wieder den Hügel
hinunterkullern zu lassen und damit den Jagdtrieb der Katze zu
wecken. Sie sprang nach, schubste und versuchte in das neue Spielzeug
zu beißen, musste aber enttäuscht feststellen, dass das sehr hart
und gar nicht quietschig war. So hörte sie nach kurzer Zeit wieder
auf, sah den jetzt an eine Hausmauer gerollten Schädel noch eine
Zeitlang an und schlich dann enttäuscht von dannen. Der Sohn hatte
das ganze von seiner Position am höchsten Punkt mitangesehen und
wartete auf eine Reaktion. Da kam nichts.
Hat
es dem Alten jetzt die Sprache verschlagen? Er will gerade losrollen,
um zu sehen, was mit ihm geschehen ist, als er ganz laut und deutlich
hört:
Ich
hasse Katzen!
Franzi
grinst. Dieser Satz war ein geflügeltes Wort in ihrer Familie
gewesen. Wann auch immer sie gemeinsam unterwegs gewesen waren und
dabei eine Katze sahen, knurrte der Vater auf der Stelle diese Worte.
Er schmetterte jedes Gegenargument ab und blieb sein Leben lang ein
Katzenhasser. Jetzt hatte er noch einen Grund mehr. Aber dann geschah
etwas unvorhersehbares. Franzi hört ein seltsames Geräusch. Es
kommt ganz eindeutig von dem Seniorschädel und es klingt, als ob...
Er
lacht.
Er
lacht wirklich! Nicht freudig und melodiös sondern kurz und
abgehackt, aber er lacht und hört gar nicht mehr auf. Franzi reißt
die Augen auf und schaut ungläubig.
Diese
Mistviecher! Ich hab es doch immer schon gesagt, die taugen nichts.
Ach das war ja klar, dass sie mich erwischt.
Schön
langsam verebbt das Lachen wieder.
Komm
Franzi, wir gehen zurück. Mir reicht es für heute mit unserem
Ausflug.
Und
gemeinsam kullern sie gemächlich wieder zurück zum Friedhof, wo sie
in der Nähe ihres Grabes unter einem Busch den Tag unentdeckt
verbringen werden, bis sie zu ihrem nächsten gemeinsamen
Nachtabenteuer aufbrechen.
Hihi, sehr speziell Deine Story. Mir droht so eine späte und langwierige Zweisamkeit ja nicht, ich glaube das ist auch gut so :-)
AntwortenLöschenLiebe Grüße
Volker
Danke, lieber Volker!
LöschenDie Geschichte beruht auf einem wahren Erlebnis, das mir mal in der Arbeit erzählt wurde, dass nämlich durch unvorsichtiges Ausheben eines Grabes ein schon bestatteter Schädel an die Oberfläche kam. Tja und da lief bei mir dann gleich der Film im Kopf los! ;)
"Droht" dir kein Familengrab? Auch beruhigend, oder? :)