Mittwoch, 1. Januar 2020

(3) Schlechter Scherz

Am nächsten Morgen. Mein Wecker läutet und kaum bin ich wach, springe ich förmlich aus dem Bett. Das ist zwar sehr untypisch für mich, aber ich kann es einfach nicht mehr erwarten, Klarheit zu erlangen. Ich habe noch genügend Zeit, mein Zug fährt erst in 25 Minuten, also trinke ich noch einen Kaffee und überfliege noch einmal die Bundeslandnachrichten am Laptop. Da steht nichts von einem großräumigen Telefonnetzausfall. Na egal, in einer guten Stunde bin ich ja da.
Der Zug ist heute ungewohnt leer. Vielleicht haben die Schüler, des angrenzenden Gymnasiums ja frei. Aber auch sonst habe ich das Gefühl, lauter neue Gesichter zu sehen. Vielleicht bin ich ja einfach übertrieben aufmerksam nach dem gestrigen Erlebnis. Sonst bemerke ich ja kaum DASS da andere Menschen sind. Geschweige denn welche!
An der üblichen Haltestelle steige ich aus und gehe los. Es sind gerade mal 10 Minuten bis zum Hintereingang der Klinik und ich gehe zügig. Kurz bevor ich zu dem Tor komme, stocke ich. Irgendetwas stimmt da ganz und gar nicht! Wo ist der hohe Maschendrahtzaun, der die Tennisplätze umrahmt? Wo ist das Tor und das flache Gebäude hinter dem Gemüseacker? Fassungslos schaue ich auf die Fläche hinter dem Holzzaun, an dem ich mich jetzt auch festhalte! Das ist doch sicher nur ein schlechter Scherz. Wohin ist denn bitte das Klinikgelände verschwunden? Ich gehe ein paar Schritte weiter, den Blick lasse ich über die Wiese und eine Wohnhaussiedlung schweifen. Ich drehe mich um, schaue hinter mich. Alles normal. Ich gehe weiter, blicke nach vorne, wieder nach links. Von hier aus müsste ich schon das Gebäude sehen, in dem mein Büro ist. Es ist nicht da! Ich spüre, wie meine Beine unter mir nachgeben. Der Schweiß bricht mir aus und ich lasse mich einfach zu Boden sacken. Ein junger Mann fährt mit dem Rad an mir vorbei, legt eine Vollbremsung hin, springt vom Rad und ruft mir schon im Näherkommen zu:
Was ist denn los? Brauchen sie Hilfe?
Ich hole tief Luft. Konzentriere mich auf meinen Körper. Ich spüre den kühlen Boden unter mir, den Zaun in meinem Rücken, an den ich mich lehne. Ich spüre die frische Luft, die ich einatme und meinen Herzschlag. Ich spüre sogar, dass mein T-Shirt am Rücken ganz nass ist.
Geht schon, antworte ich. Ich glaube, das war der Kreislauf. Aber jetzt bin ich wieder voll da.
Er schaut mich zwar etwas zweifelnd an, nickt aber und setzt nach einem letzten prüfenden Blick auf mich seine Fahrt fort. Ich stehe wieder auf und drehe mich um. Mein Gehirn ist völlig überfordert mit der Situation und sendet mir keine normalen Sinneseindrücke mehr, sondern nur mehr kürzeste Informationsschnipsel. Baum. Sonnenblende an Terrassentür. Gelber Ball auf Wiese. Wimpel im Wind.

Vorsichtig gehe ich Schritt für Schritt weiter. Jetzt müsste eigentlich der zweite Hintereingang zur Klinik kommen. Das große Eisentor, das man mit dem B-Schlüssel aufsperren muss. Den hat mir zwar gestern M1 abgenommen, aber das macht nichts. Das Tor ist nämlich genauso wenig da, wie der Rest des Klinikgeländes. Ich schlucke trocken. Gehe aber wie ferngesteuert weiter und weiß, dass ich nur die Möglichkeit habe, zum Haupteingang zu gehen und dort beim Portier zu fragen, was hier los ist. Wieso ich nach diesem Erlebnis immer noch glaube, der Portier sei dort, wo er auch gestern noch gewesen ist, weiß ich nicht. Typischer Fall von geistiger Überforderung. Ich biege links in die Guggenmoosstraße ein und gehe weiter Richtung Ignaz-Harrer-Straße. Links von mir ist eine neue Wohnanlage, die ich noch nie gesehen habe. Da müsste doch der Besucherparkplatz sein und dahinter der Portier. Aber da steht ein Haus mit Tiefgarageneinfahrt und dahinter  noch eines. Ich gehe weiter. Lauter Wohnhäuser mit Balkonen, Terrassen, kleinen Grünflächen und Gehwegen dazwischen. Irgendwann bleibe ich stehen und drehe mich um mich selbst.
Ich muss wohl noch schlafen. Haha, was ich immer für Träume habe, ist schon richtig toll! Ich zwicke mich in meinen rechten Oberarm. AUA!!! Scheiße tut das weh! Ich bin also wach. Bei dieser Erkenntnis wird mir gleich wieder ganz schwummrig. Rechts vor mir entdecke ich eine Holzbank vor einer Hecke. Ich schleppe mich mit letzter Kraft dort hin, lasse mich fallen und ziehe mein Telefon heraus. Mir ist zum heulen. Ich versuche noch einmal, meine Chefin zu erreichen, wundere mich aber schon gar nicht mehr, dass keine Verbindung zustande kommt. Wie denn auch,wenn es sie gar nicht gibt. Vorsichtig blicke ich mich um. Niemand da, der mich beobachtet. Aber trotzdem fühle ich mich überwacht, bin mir sicher, dass dieser Wahnsinn damit zu tun hat, was gestern passiert ist. Die haben mich sicher mit Absicht laufen lassen und jetzt versuchen sie, mich in den Wahnsinn zu treiben.
Aber nicht mit mir.
Ich wähle die Nummer meiner Schwester. Sie hebt sofort ab.
Ja, was ist denn?
Puh, klingt die gestresst.
Paula, ich brauche deinen klaren Menschenverstand. Sag mir doch bitte, wo ich arbeite?
Stille.
Paula?
Ja.
Ich kann's dir nicht am Telefon erklären, aber ich möchte bitte, dass du mir sagst, wo ich arbeite!
Schrei doch nicht Marion, sagt sie jetzt in einem beinahe therapeutenähnlichen Singsang. Du sollst dich doch nicht aufregen.
Das regt mich jetzt wirklich auf. Kann die Kuh denn nicht einfach sagen: du arbeitest in der Christian-Doppler Klinik und das seit gut vier Jahren? Dann hätte ich zumindest die Gewissheit, dass ich nicht den Verstand verliere.
Paula bitte, sage ich nun sehr sanft. Sag es einfach. Frag nicht, denk dir nichts, ich erkläre es dir, wenn wir uns das nächste Mal sehen.
Marion, ich weiß ja nicht was los ist, aber du klingst nicht gut. Willst du, dass ich jemanden für dich anrufe?
Nein, das ist nicht nötig, antworte ich jetzt und lege auf.
Ich stehe auf, gehe eine Runde durch die Siedlung und dann wieder einen Teil des Weges zurück. Ich weiß zwar nicht, was hier gespielt wird, aber wenn niemand mehr hier ist, den ich fragen kann, hat es auch keinen Sinn, zu bleiben. Ich werde einfach ins Landeskrankenhaus gehen und dort in der Personalstelle oder der Verwaltung oder sonst wo fragen, wohin die CDK denn von einen auf den anderen Tag verschwunden ist und wo ich in Zukunft arbeiten soll. Schon während mir dieser Gedanke durch den Kopf geht, bemerke ich, wie irre sich das anhört.
Trotzdem mache ich mich auf den Weg. Schon nach ein paar Schritten kommt mir eine Frau ungefähr in meinem Alter entgegen. Ich beschließe, mein Glück herauszufordern und frage sie:
Entschuldigung, ich suche die Christian-Doppler-Klinik. Können sie mir vielleicht sagen, wie ich dorthin komme?
Sie sieht mich prüfend an, die rechte Augenbraue beinahe bis zum Haaransatz hochgezogen. Dann schüttelt sie den Kopf und sagt:
Nie gehört, was soll das sein? Ein Sanatorium oder sowas?
Ich schlucke leer.
Ich, ich, ich .... stottere ich los.
Ich weiß auch nicht genau. Gibt es denn hier in der Gegend so etwas?
Sie schaut immer misstrauischer.
Die Landesklinik.
Sie deutet mit der rechten Hand nach schräg hinten.
Die ist in Mülln. Aber es gibt noch ein paar kleinere private Krankenhäuser. Vielleicht meinen sie ja eines von denen. Aber den Namen, den sie gesagt haben, kenne ich nicht. Es gibt nur eine Schule, die so heißt, die ist an der Salzach.
Ok, vielen Dank, sage ich jetzt schnell, damit sie meine Bestürzung nicht bemerkt. Wobei, wem sollte das jetzt noch schaden?
Langsam gehe ich weiter. Mein Kopf fühlt sich an, als wolle er explodieren. Wahrscheinlich verknotet sich mein Gehirn gerade völlig neu, weil es nicht mehr in der Lage ist, diese Ereignisse zu verarbeiten. Ich gehe zur Glan, um von dort der Bahn entlang ins Landeskrankenhaus zu kommen. Ich liebe diese Strecke, seit die Glan renaturiert wurde und Bänke und Tische zwischen dem Gehweg und dem kleinen Fluss zum genießen einladen. Heute bemerke ich aber nicht mal, dass die Sonne aufs Wasser scheint und es zum glitzern bringt. Dass das Wasser sich ruhig und stetig seinen Weg durchs Bachbett sucht. Ich habe keine freien Kapazitäten mehr, um Energie an solche Wahrnehmungen zu vergeuden. Aber die Kopfschmerzen werden immer schlimmer und ich spüre, dass ich anfange zu torkeln. Bevor ich ein zweites Mal an diesem Tag auf der Straße sitze, stolpere ich schnell ein paar Schritte zur nächsten Bank und stütze mich ab. Mir ist schwindlig und schlecht. Ich spüre meine Beine nicht mehr und lasse mich kraftlos fallen.
Was geht hier vor? Werde ich verrückt? Mein ganzer Körper fühlt sich ganz seltsam an. Ich kann die Bank gar nicht spüren, nur ein Teil der Lehne am oberen Rücken. Am liebsten würde ich losheulen, aber was soll das bringen? Ich versuche angestrengt, mich zu beruhigen und atme lange und langsam aus und ein. Trotzdem schaffe ich es nicht, meine Augen auf einen festen Punkt zu fixieren. Sie springen umher und verwirren mich nur noch mehr. Also presse ich sie zu, senke den Kopf und öffne sie langsam wieder.
Ja, das hat geholfen. Mein Blick ist nach unten gerichtet auf die Bank, auf der ich sitze. Sie ist dunkelbraun, aus Holz und...
WAAAAAS? Wo sind meine Beine??? Ich beuge mich vor, nichts! Meine Füße, meine Beine sind weg, ich schaue an mir hinunter und sehe gerade noch Teile meines Bauchs, der allerdings auch schon ganz durchscheinend ist und meinen Brustkorb. Meine Hände sind auch nicht mehr zu sehen, nur Teile der Oberarme, die sich aber in diesem Moment aufzulösen scheinen. Ich springe auf und laufe auf den nächsten Spaziergänger zu, den ich sehe. Es ist ein alter Mann mit Hut und Mantel, der einen kleinen Schnauzer an der Leine führt.
Bitte! Bitte können Sie mir sagen...
setze ich an. Aber ich kann doch nicht fragen, ob er mich sieht?
In dem Moment ist er schon an mir vorbei gegangen. Nein falsch. Nicht vorbei. Durch mich durch.
Ich schluchze auf und das ist das letzte, was ich mache, denn in diesem Moment ist auch der letzte Rest meines Körpers verschwunden.

2 Kommentare:

  1. Das wird ja immer gruseliger. Nach Happy End sieht das wirklich nicht aus *schnöff*

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    1. Ja lieber Volker, es hat irgendwie nicht sollen sein... :(
      Aber sieh es positiv, das Ende hätte auch noch sehr viel schlimmer sein können. ;)
      Vielleicht bei der nächsten Geschichte!

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