Mittwoch, 30. Juni 2021

Fremde Hände

Das laute piepen des Weckers riss sie unsanft aus dem Schlaf. War es denn wirklich schon halb sechs? Sie war so müde in den letzten Wochen, dass sie das Gefühl ausgeschlafen zu sein überhaupt nicht mehr kannte.
Gähnend rieb sie sich die Augen und zuckte zurück. Was war das gewesen? Irgendetwas hatte sich da seltsam angefühlt. Hellwach saß sie aufrecht im Bett. Sie hob die Hand, um sich die Haare aus dem Gesicht zu streichen und hielt inne. Was sie selbst in diesem unausgeschlafenen Zustand sofort erkannt hatte war, dass es nicht ihre Hand war, die da auf sie zukam. Sie hielt sie erschrocken weg und betrachtete sie.
Da war eine fremde Hand an ihrem Arm! Groß und grob erschien sie ihr auf den ersten Blick. Die Hautfarbe war gelblich und passte überhaupt nicht zu ihrem blassen Arm. Wo kam denn die auf einmal her. Prüfend hob sie nun auch den linken Arm und sah, dass auch die andere Hand nicht die ihre war. Verblüfft sah sie sich um. Wie konnte so etwas passieren und vor allem, wo waren ihre eigenen Hände hingeraten? Hingen die bei jemand anderen dran? Dauernd drehte sie den Kopf von links nach rechts, wie um sich zu vergewissern, dass da niemand war, der sie gerade verarschte. Das gab es doch gar nicht.
Aber da war niemand. Das Schlafzimmer war leer und alles was zu hören war, war ihr stoßweises Atmen. In dem Moment piepte der Wecker erneut und vor lauter Schreck sprang sie in einem Satz aus dem Bett und wischte ihn gezielt vom Nachtkästchen.
Sie musste sofort mit jemandem reden. Sie musste Hilfe holen, sie wollte ihre Hände zurück. Sie ging ins Wohnzimmer und griff nach ihrem Handy. Seltsam, wie die fremden Enden ihres Armes alles taten, was sie von ihnen wollte. Sie drückte die Kurzwahltaste 2, es läutete.
Du spinnst ja, mich um diese Zeit anzurufen, bellte eine Stimme aus dem Gerät.
Peter, sei still. Hier ist was passiert. Meine Hände sind weg.
Stille.
Peter, hörst du!
Sie hörte ein Räuspern und dann die belegte Stimme ihres Freundes. Bist du auf Drogen?
Nein, hör mir zu Peter, bitte! sie schrie schon fast, aber sie wusste nicht, wie sie ihn überzeugen sollte. Kommt bitte her und hilf mir.
Er atmete laut aus. Es war schon fast ein Stöhnen.
Lisa, sagte er jetzt mit einer versucht ruhigen Stimmlage. Ich weiß ja nicht, was wirklich los ist, aber wir haben ausgemacht, dass...
Peter ich spinne nicht, das ist kein Trick, ich weiß nicht mehr weiter. Ihre Stimme kippte und sie spürte die Tränen in ihren Augen stehen.
Bitte...
Beruhig dich doch mal.
Sie legte auf und nahm mit der Kamera ein Foto ihrer Hände auf. Erst die Linke, dann die Rechte. Die schickte sie an Peter und schrieb dazu: das sind nicht meine Hände!
Zehn Minuten später klopfte er an ihre Wohnungstür. Er hatte nur eine Jeans, ein fleckiges T-Shirt und eine Windjacke an, seine Füße steckten barfuß in alten Turnschuhen.
Sein Gesicht war noch verknautscht und die Haare standen in Schüppeln von seinem Kopf ab. Er sah sie auffordernd an.
Lisa, wenn das wieder einer deiner Versuche ist...
Sie streckte ihm nur schweigend die Hände entgegen und wartete.
Er starrte sie an. Bewegte seine rechte Hand schon darauf zu, zuckte aber zurück, bevor er sie berührte. Atmete keuchend aus.
Lisa rannen die Tränen übers Gesicht. Sie konnte nicht anders. Sie wusste nicht mehr weiter und die geschockte Reaktion von Peter verstärkte ihre Panik noch. Er, der immer eine Antwort, eine Lösung, einen Scherz parat hatte, der jede Situation erleichterte, stand kalkweiß vor ihr und sagte:
Ich muss mich erst mal setzen.
Ging um sie herum und verschwand in der Küche. Sie schloss die Wohnungstür und folgte ihm. Er stand mit dem Rücken zu ihr, beide Hände auf den Esstisch gestützt. Als er sie hörte, ließ er sich auf einen Stuhl fallen.
Sie blieb stehen. Willst du einen Kaffee? fragte sie leise.
Ein Schnaps wäre besser.
Sie reagierte nicht. Dann ging sie zum Kasten, nahm zwei Gläser, füllte sie mit Wasser und stellte sie auf den Tisch. Als sie es zu ihm schob, zuckte er zurück.
Sein Blick gab ihr den Rest. Diese Abscheu, dieser Ekel, diese Reaktion. Sie schluchzte auf und rannte zurück ins Schlafzimmer, wo sie sich auf ihr Bett warf und heulte, wie ein kleines Kind. Sie hörte nicht mehr, dass er die Wohnung verließ, es war ihr aber auch egal. Irgendwann lag sie am Rücken und schniefte vor sich hin. Sie wollte sich nicht die Augen reiben, nicht die Nase putzen, sich nicht mit diesen fremden Händen berühren.

Peter war am Weg zurück zu seiner Wohnung. Seine Gedanken überschlugen sich. Was war da geschehen? Hatte er sich das nur eingebildet? Nein, er hatte ganz deutlich gesehen, dass es stimmte, was Lisa ihm am Telefon entgegengeschleudert hatte. Er stapfte vor sich hin, als könne er mit dem Tempo die Bilder dieser viel zu großen, falschen Hände vergessen.
Das klappte nicht. Weder an diesem Tag, noch an einem der nächsten. Er wollte nicht mehr daran denken, aber es gelang ihm nicht. Obwohl Lisa sich nicht mehr bei ihm gemeldet hatte, blockierte er vorsorglich ihre Nummer. Er wollte nichts mehr mit ihr zu tun haben.
Eines Abends brach es dann aber doch aus ihm heraus. Es war in seiner Stammkneipe, mit den Jungs. Die übliche Runde, es wurde getrunken und angegeben. Thomas hatte mal wieder einen Supercoup für seine Firma an Land gezogen, Richard sein Fitnesstraining optimiert und Marc redete schon fast eine Stunde nur von seinem nächsten Auto.
Irgendwann war er fertig und Stille trat ein.
Was ist denn eigentlich los mit dir? frage Thomas ihn jetzt. In den letzten beiden Wochen haben wir genau - lass mich mal hochrechnen - null Sätze von dir gehört. Hast du das Sprechen verlernt?
Er hob den Kopf und sah in die Gesichter seiner Freunde. Neugierig, leicht verärgert, abwartend.
Ach mir ist da so was blödes passiert, das geht mir einfach nicht aus dem Kopf.
Und dann schien irgendeine Schleuse gebrochen zu sein und er erzählte ihnen die ganze Geschichte. Erst lachte Marc noch hämisch, als er Lisas Namen erwähnte, er konnte sie noch nie leiden und fand, dass er noch immer zu viel nach ihrer Pfeife tanzte, aber dann wurden sie still.
Als er fertig war, wartete er auf eine Reaktion.
Stille.
Schließlich sagte Thomas: Was hast du dir denn da für einen Schwachsinn ausgedacht. Wenn du nicht sagen willst, was los ist, sag halt nix.
Peter war fassungslos. Sie glaubten ihm nicht. Wobei, wenn er ehrlich war, hätte er es ja auch nicht glauben können, hätte er diese Hände nicht mit eigenen Augen gesehen.
Hört mal Jungs, setzte er jetzt zu einer Erklärung an. Ich bin doch nicht irre. Ich kann verstehen, dass ihr mir nicht glaubt, ich konnte es ja selbst nicht glauben.
Sag mal, fällst du eigentlich auf jede Aktion herein, die diese Kuh anzettelt, um dich in ihre Wohnung zu locken? spie Marc ihm jetzt entgegen. Zieht Latexhände an und jammert dir was vor und du kommst angerannt, sie zu trösten.
Er schüttelte den Kopf und wandte sich ab.
Ich gehe, ich hab keine Lust hier die Märchenstunde noch länger mit meiner Anwesenheit zu beglücken.
Und weg war er.
Peter schüttelte ungläubig den Kopf.
Sagt mal, glaubt ihr wirklich ich habe das erfunden?
Lass gut sein, sagte Richard. Das war einfach etwas zu dick aufgetragen. Das musst du selbst zugeben.
Also dann, ich muss auch, sagte Thomas und stand auf. Richard nickte, klopfte kurz auf den Tisch und sagte:
Die Zeche übernimmst du. Wenn du uns schon mit deiner Phantasie in die Flucht schlägst, sollst du dafür bezahlen.
Und weg waren sie.
Peter saß noch eine Weile da und zermarterte sich das Gehirn. Hatte Marc recht? Aber er war sich doch so sicher gewesen. Er konnte sich doch nicht so getäuscht haben. Aber erklären konnte er sich die fremden Hände auch nicht.
Er bestellte noch einen Drink, zahlte die ganze Runde, ging nach Hause und beschloss, dieses Erlebnis aus seinem Gedächtnis zu streichen.

Und Lisa? Die gewöhnte sich nach und nach an die Hände, die sie seit diesem Tag mit sich herumtrug. Sie wusch sie regelmäßig mit Zitronenwasser, um ihre Färbung an ihre eigene Haut anzupassen und mit der Zeit gewöhnte sie sich so an sie, dass es ihr auch nicht mehr schwerfiel, sich von ihnen an ihren intimen Stellen berühren zu lassen, wenn sie sich wusch und eincremte. Manchmal dachte sie kurz vor dem einschlafen noch an ihre eigenen Hände und hoffte, dass es ihnen gut ging, dort wo sie jetzt waren. 

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