Dienstag, 14. Januar 2025

Sommer - Stimmen

Ahhhh - diese wohltuende Wärme! Glücklich seufzend lehne ich den Kopf an die Steinmauer, auf deren Vorsprung ich es mir gemütlich gemacht habe und spüre, wie sie die gespeicherte Hitze des ganzen Tages abstrahlt. Wie von selbst entspannen sich meine Muskeln, die nach den Wanderungen der letzten Tage ziemlich mitgenommen sind. Urlaub kann ja so anstrengend sein!
Es ist so angenehm hier an der Promenade zu sitzen, dass ich trotz der wunderschönen Aussicht aufs Meer mit seinen unterschiedlichen Blautönen und seiner unendlichen Weite meine Augen schließe und mich vom leisen Plätschern der Wellen einlullen lasse. Gelegentlich nähern sich Schritte von der einen und entfernen sich wieder auf der anderen Seite. Nur manchmal werden sie von Stimmen begleitet; griechische und englische Sätze kann ich am häufigsten erkennen.
Ein sanfter, milder Wind streicht über mein Gesicht und erinnert mich an ein Seidentuch, das ich vor vielen Jahren besessen habe. 

In diese Erinnerung mischt sich jetzt eine Stimme, die so gar nicht in diesen Zustand zwischen wachen und träumen passen mag. Nicht unbedingt laut, aber durchdringend. Hell und klar und vor allem aufgeregt. Sie perlt und purzelt, springt von links nach rechts, von oben nach unten. Nur ganz selten wird sie von einer zweiten, sehr viel ruhigeren Stimme unterbrochen, die so gedämpft ist, dass ich sie keiner Sprache zuordnen kann. Sie kommen von links und jetzt erkenne ich eindeutig deutsche Wörter. Und nicht nur das, der Dialekt, das klingt ja wie zuhause!
Alarmiert spitze ich meine Ohren. Irgendwie kam mir dieses sprudelnde Auf und Ab der Stimme schon vorher bekannt vor. Kenne ich die Sprecherin? Verflixt. Ich habe überhaupt keine Lust auf ein Gespräch, aber so, wie ich hier sitze, kann ich unmöglich NICHT gesehen werden.
Jetzt aufzustehen und in die andere Richtung davonzugehen wäre aber viel zu auffällig, da versuche ich es lieber mit der Totstell-Variante. Vielleicht sind die beiden ja so ins Gespräch vertieft, dass sie mich nicht sehen. Wenn ich denn eine der beiden Frauen wirklich kenne. So ganz sicher bin ich mir da noch nicht. Ich kenne die Stimme, aber es fällt mir kein Gesicht dazu ein.

Angestrengt halte ich meine Augen geschlossen, obwohl die Neugier mich fast umbringt. Noch mehr, als die Stimmen plötzlich nicht mehr zu hören sind. Sind die beiden Frauen stehen geblieben, umgekehrt oder einfach nur verstummt? Wie gerne würde ich in ihre Richtung blinzeln, um meine Neugier zu befriedigen. Gefühlt wächst mein linkes Ohr um das zehnfache seiner Größe an, so konzentriert lausche ich in ihre Richtung. Wird da etwa getuschelt und geflüstert?
Nein, es ist nichts zu hören. Zumindest keine Wörter. Aber ich glaube, Bewegungen der beiden wahrnehmen zu können. Vielleicht stehen sie schon ganz nah, schauen mich an und versuchen sich mit Gesten und Grimassen zu verständigen. Haben sie, bzw. hat mich die Trägerin der hellen Stimme ebenfalls erkannt und möchte vielleicht ihrerseits auch nichts mit mir zu tun haben? Wer könnte das sein? 
Da ich die Stimme nun nicht mehr hören kann, bin ich mir plötzlich auch gar nicht mehr sicher, sie wirklich zu kennen. Vielleicht war das alles ja nur Einbildung. 
Aber ich war mich doch so sicher! Angestrengt kombiniere ich Frauenstimmen mit Gesichtern. Ist es eine Bekannte aus dem Arbeitsumfeld? Kenne ich sie persönlich oder nur vom Telefon? Vielleicht aber auch jemand aus der Nachbarschaft. Es könnte eine Verkäuferin in einem meiner Stammgeschäfte sein oder auch ... 
Ach was soll's, mir fällt niemand ein. Mein Gehirn kann sich mit dieser Erkenntnis nicht so schnell zufriedengeben, es flitzt weiter in Höchstgeschwindigkeit von meiner Schulzeit zur ersten Arbeitsstelle, von den Nachbarn meiner ersten eigenen Wohnung zu den Vortragenden in meiner Ausbildung. Hin und her, vor und zurück. Es sucht und sondiert, es rackert und vergleicht. 

So beschäftigt, hat es keine Zeit mehr, auf die Geräusche hier und heute zu achten und so bin ich nicht mehr auf dem laufenden, ob sich die beiden, die zu dieser ungeplanten, akustischen Durchforstung meiner Vergangenheit geführt haben, wieder zu Wort gemeldet oder mich gar angesprochen haben!
Das ist nun wirklich zu viel der Ungewissheit und so weiche ich von meinem ursprünglichen Plan ab und öffne ganz langsam erst das linke, dann auch das rechte Auge, sehe das Meer, die Promenade und ... nichts. 
Drehe den Kopf nach links und rechts, schaue über meine Schultern hinter mich. 
Aber da ist niemand. 
Oder niemand mehr. 

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