"Das sind die Letzten".
Hinter ihr schob der Kellner zwei hohe Stapel mit Tellern auf die Ablagefläche. Sie wischte sich mit dem Unterarm den Schweiß von der Stirn. Heiß war es hier immer. Im Sommer noch mehr, als jetzt im November. Aber auch in den kalten und trüben Monaten stand sie hier in der Hitze der Restaurantküche an ihrem Arbeitsplatz, wo sich auch noch die hohe Luftfeuchtigkeit der Spülanlage dazu mischte. Ihr Blick ging nach oben zu dem kleinen Fenster. Ja doch, es war gekippt. Trotzdem kam keine Abkühlung durch den schmalen Schlitz oberhalb ihres Kopfes. Egal, sie arbeitete weiter.
Essensreste abkratzen, die Teller und Schüsseln in die Gestelle der Spülmaschine schlichten und mit der Handbrause vorspülen. Sobald der aktuelle Korb fertig war, ihn auf der anderen Seite rausziehen und nächsten Korb rein. Startknopf drücken, nächster Korb. Sie arbeitete zügig und konzentriert. Jeder Handgriff saß, schließlich stand sie seit fast drei Jahren an fünf Tagen die Woche, an diesem Platz. Beinahe hätte sie die Stelle nicht bekommen, weil der Restaurantbesitzer von ihrer geringen Körpergröße so überrascht war, dass er ihr diese Arbeit nicht zutraute. Abwäscher waren sonst oft junge, kräftige Männer, aber keine hageren, kleinen Frauen wie sie. Vor allem keine, die schon auf die sechzig zugingen. Ihr war das egal. Sie hatte ihn angesehen und gesagt: "Probieren Sie es aus. Sie werden schon noch sehen, was Sie an mir haben."
Und das sah er. Während die anderen Hilfskräfte in der Küche beinahe im Jahreswechsel kamen und gingen, blieb sie. Sie sprach nicht viel und schon gar nicht von sich. Selbst der Küchenchef, der schon jahrelang in dem Betrieb arbeitete und zu allen Mitarbeitern einen guten Draht hatte, wusste kaum etwas über sie. Auf seine wenigen Fragen hatte sie nur sehr einsilbig geantwortet und ihm war ihr Unbehagen darüber befragt zu werden, so deutlich geworden, dass er es unterließ weiter in sie zu dringen.
Sie kam pünktlich, erledigte ihre Arbeit in ihrem ganz eigenen Rhythmus, der auf den ersten Blick vielleicht langsam wirkte, aber so effizient war, dass sie nie länger brauchte, als die anderen. Sie hatte nicht einen Tag wegen Krankheit gefehlt und die zwei Wochen Urlaub, die ihr nach dem dreiwöchigen Betriebsurlaub noch zustanden in der Zeit konsumiert, in der sonst niemand gehen wollte.
Sie wusste, dass die anderen über sie sprachen, aber das war ihr egal. Was am Stammtisch geredet wurde, hatte ja meistens kaum Wahrheitsgehalt. Wenn sie sie lachen und grölen hörte, wurde ihr immer ganz eng ums Herz. Sie hätte nichts ausgelassen, hieß es dort. Sei als "Künstlermuse" mit Malern und Bildhauern nach Kreta ausgewandert, als sie gerade mal Zwanzig war. Was das bedeute, wisse wohl jeder! Von wegen Künstler, das waren doch alles arbeitsscheue Gesellen, die wilde Sexorgien feierten. Keiner von denen hatte es schließlich jemals zu etwas gebracht. Zumindest nicht, soweit es irgendeiner der Stammtischbrüder wusste. Was nicht viel war. Was wussten die denn schon!
Sie hatte sie nie verstanden, diese Gruppenbildung derer, die so unsicher waren, dass sie sich alleine nicht durchs Leben trauten. Derer, die keine eigene Meinung hatten und deshalb die der Stammtischnachbarn ungefragt übernahmen. Die soviel Angst vor der Stille hatten, dass sie lieber Tag für Tag im Wirtshaus saßen und ihr letztes Geld für Bier ausgaben, als einmal einen Abend zuhause zu bleiben. In der Stille. Mit sich selbst und ihren Gedanken und Gefühlen. Sie taten ihr ja fast leid. Was mussten das für angsterfüllte und erbärmliche Leben sein. Ihnen gegenüber fühlte sie sich schon wieder reich und beschenkt. Sie konnte für sich selbst sorgen, brauchte niemanden. Sie war gesund und konnte eigenständig denken.
Diese Arbeit war ein Glücksgriff für sie gewesen, kam sie doch genau zur richtigen Zeit und noch dazu nur ein paar Straßen von ihrer kleinen Garconniere entfernt. Sie hatte nicht geglaubt, noch einmal in ihrem Leben arbeiten gehen zu müssen, hatte doch ihr Lebenspartner immer wieder von ihrem gemeinsamen Ruhestand geschwärmt, dass sie reisen und es sich gutgehen lassen würden. Und sie hatte ihm vertraut und sich nie um eine eigene Versicherung gekümmert. So etwas war ihr ihr ganzes Leben lang unwichtig gewesen. Sie lebte immer im Augenblick und wenn sich die Gelegenheit ergab, mit einer Künstlergruppe für ein Jahr nach Kreta zu ziehen und in der Nähe von Ierapetra zu leben, hatte sie ohne Bedenken ihren Bürohilfsjob aufgegeben und war verreist. So war das immer wieder gewesen, bis sie in Südfrankreich in einem Malerdorf auf Henning getroffen, sich verliebt hatte und schließlich mit ihm zusammen nach Österreich zurückgekehrt war. Er hatte durch seine Malkurse und Ausstellungen genügend für sie beide verdient und sie lebten einige Jahre sehr glücklich und genügsam in seinem kleinen Häuschen außerhalb einer Ortschaft im Walgau.
Allerdings kam es ganz anders, nachdem er immer häufiger mit starken Schmerzen aufgewacht war und nach einem Arztbesuch direkt ins Landeskrankenhaus eingeliefert wurde. Dort bekam er nach einer Woche Aufenthalt die Diagnose Pankreaskarzinom im fortgeschrittenen Stadium. Nur knapp vier Monate später war er tot und sie stand nicht nur mit ihrer Trauer alleine da, sondern musste sich auch nach vielen Jahren wieder mit bürokratischen Themen beschäftigen. Sie ließ sich ihre Versicherungszeiten zusammenzählen und ausrechnen, ob sie schon einen Pensionsanspruch hätte. Dafür fehlten ihr allerdings noch einige Versicherungsjahre und so saß sie nur zwei Wochen nach Hennings Tod mit der den Stellenanzeigen der Samstagszeitung auf der Bank vor ihrem Haus, als ein Auto vorfuhr. Ein junges Paar stieg aus und kam auf sie zu. Sie glaubte ihren Augen nicht zu trauen, als sie die beiden ansah. Zwei jüngere Ausgaben des Gesichts, das sie so sehr geliebt hatte und von dem sie noch immer nicht endgültig hatte Abschied nehmen können. Noch bevor die beiden ein Wort gesagt hatten, war ihr klar, dass es sich um Hennings Kinder handeln musste.
Kurz danach hatte sich dieses Wissen bestätigt und die beiden hatten ihr auch ganz unmissverständlich klar gemacht, dass sie das Haus, dessen Erben sie nun mal waren, verkaufen würden. Weder sie noch Henning hatten in der kurzen, ihm noch verbleibenden Zeit nach seiner Diagnose daran gedacht, eine testamentarische Verfügung zu erlassen, durch die sie für ihre Zukunft abgesichert sein würde. Nie hatten sie ihre Partnerschaft offiziell bestätigen lassen oder sich um ähnliche Dinge gekümmert. Seine Kinder waren von dieser Tatsache fast noch mehr erschüttert, als sie selbst und hatten ihr angeboten, eine Garconniere, die sie schon lange besaßen zu einem äußerst fairen Preis anzumieten. Sie hatte sofort zugesagt - das Haus war ohne Henning ohnehin nicht mehr das, was es gewesen war. So war sie ein paar Tage später mit zwei großen Koffern und einem Rucksack nach Feldkirch gefahren und hatte ihr Zimmer mit Bad und Kochzeile bezogen.
Wieder nur ein paar Tage später saß sie beim Vorstellungsgespräch für die Stelle in dem Restaurant am Hauptplatz, die ihr nun ihr Leben finanzierte.
Hatten die Küchenhilfen und Köche anfangs noch versucht, sie gelegentlich in ein Gespräch zu verwickeln oder sie zu ihren Pausen in den Hof mitzunehmen, hatten sie auf Grund ihrer freundlichen aber direkten Weigerung bald damit aufgehört. Sie wollte keine Kontakte knüpfen, nicht mit den anderen reden. Fragen zu ihrer Person überhörte sie geflissentlich, nur wenn es etwas Dienstliches war, reagierte sie. Sie hielt sich so konsequent an diese Gangart, dass sie schon bald in Ruhe gelassen wurde.
Sie arbeitete gerne an der Spüle. Es war eine Tätigkeit, bei der sie sofort Ergebnisse sah. Die Teller kamen schmutzig und gingen sauber wieder. Manchmal wurde ihr ganz weh, wenn sie sah, wie viele Essensreste noch auf den Tellern blieben und wenn keiner hersah, kratze sie manchmal ein wenig davon in eine kleine Plastikdose, die sie immer in einer ihrer Stofftaschen mit sich herumtrug. Diese Reste nahm sie als Verpflegung für ihre freien Tage mit in ihre Wohnung und konnte nicht nur ihr ungutes Gefühl, Essen wegzuwerfen umgehen, sondern sparte auch noch viel Geld für Einkäufe.
Das gab sie lieber für Literatur aus. Nicht, dass sie ständig Bücher kaufte, dafür reichte der Stauraum in ihrer kleinen Wohnung bei Weitem nicht aus und die meisten konnte sie sich auch in der Stadtbücherei in der Schulgasse ausleihen. Aber sie besuchte gerne Lesungen und kleine Theateraufführungen an ihren freien Tagen. Sie liebte die Atmosphäre, die in den Räumen herrschte, bevor eine Veranstaltung begann und ließ sich viel Zeit, wenn sie vorbei war, um auch "das Danach" bewusst wahrnehmen zu können. Wenn die Reihen sich nach und nach leerten, die Stimmen weniger wurden und wieder Stille einkehrte.
Immer wenn ihre Schultern von dem Gewicht der Geschirrkörbe schmerzten und sie ihre Beine kaum noch spürte, richtete sie ihren Blick zu dem kleinen, gekippten Fenster. Für die Köche war es einfach nur ein kleines Fenster zum Hof, aber für sie war es jedes mal ein kurzer Lichtblick, denn wenn sie hinaussah, konnte sie alle schönen Erlebnisse ihres Lebens abrufen. Und manchmal, ganz selten glaubte sie auch ein kleines Stückchen ihrer Zukunft dort sehen zu können. Das ließ sie dann immer ganz ruhig werden und weiterhin in ihrem Takt die Teller säubern und stapeln.
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