Dienstag, 8. Oktober 2024

Telekinese

Think louder!
Sie lenkt ihren Blick auf die Motorhaube des Autos, das schon seit über fünf Minuten mit laufendem Motor neben der Haltestelle steht. Kurz hat sie überlegt, an die Scheibe zu klopfen und den Fahrer darauf hinzuweisen, dass er die Autoabgase in das Auto leiten muss, um Selbstmord zu begehen, aber vermutlich hätte er den Wink mit dem Zaunpfahl nicht verstanden und sie nur angemotzt. Also konzentriert sie sich auf ihre Fähigkeit, ihren Gedanken die nötige Energie zu geben, Realität zu werden. 
Seit sie in der ersten Klasse ihrer Banknachbarin, die ihr immer ihre Buntstifte wegnahm und sie auslachte, wenn sie sie zurückverlangte, den Boden der Schultasche durchbrechen ließ, so dass alle ihre Schulsachen und die, die sie den anderen Schülern abgenommen hatte, am Schulhof landeten, wusste sie um diese Gabe. Gleichzeitig erwachte in ihr aber auch eine Art Selbstkontrolle, die sie nur sehr sparsam und überlegt damit umgehen ließ. Woher die kam, wusste sie selbst nicht. Es war, als gingen diese beiden Eigenschaften Hand in Hand. Als gäbe es die eine ohne die andere nicht. Darüber dachte sie aber in den ersten Jahren nie nach. Das kam alles erst sehr viel später. 
Sie achtete im Alltag darauf, niemanden vorsätzlich zu verletzen oder gar zu töten. Das geschah nur, wenn es nicht anders ging oder eine Situation nicht mehr anders entschärft werden konnte. In Fällen wie dem laufenden Motor heute, reichte ja ein klein wenig Sabotage. 
Noch einmal versucht sie den Blick des Fahrers zu erhaschen, der aber schaut, wie schon die ganze Zeit, die er da stand, nur mit gebeugtem Hals auf sein Telefon.
Na gut, dann eben ohne Vorwarnung. Sie zuckt mit den Schultern, richtet ihren Blick auf die Motorhaube, stellt sich vor, sie hätte einen Röntgenblick, der durch das Blech ins Innere reicht. Dort sieht sie einen Bereich, den sie jetzt durch ihre Gedanken überhitzen lässt. Ein Schlauch beginnt zu schmelzen, gleichzeitig verbiegen sich Ventile, ein schnarrendes Geräusch ist zu hören, dann stirbt der Motor ab und gleichzeitig steigt eine dunkle, übelriechende Rauchwolke auf. 
Sie beobachtet weiterhin den Fahrer, der nicht, wie sie erwartet hätte, aus dem Fahrzeug springt und zur Motorhaube geht, sondern nur gegen das Lenkrad schlägt und scheinbar den Anlasser betätigt, denn noch zweimal hört sie das schnarrende Geräusch, dem sich jetzt ein leicht kreischender Unterton anschließt. 
Lächelnd wartet sie ab, sieht wie er die Tür öffnet und unglaublich langsam und ziemlich unsicher aus dem Auto steigt. Dann kommt ihr Bus und so kann sie leider nicht mehr verfolgen, wie er mit dieser für ihn wohl neuen Situation umgehen wird. 
Entspannt lehnt sie sich zurück und genießt das leichte und unbeschwerte Gefühl in ihrem Kopf, das sich nach einer telekinetischen Aktion immer einstellt. 

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