Samstag, 31. Dezember 2016

Der Tag, an dem ich das Internet gelöscht habe

Ich bin, bzw. war eine durchschnittliche Internetnutzerin. Ich sage das an dieser Stelle nur, um zu betonen, dass das, was ich getan habe, keinesfalls in böser Absicht geschah. Ich habe meine Online-Zeit nie aufgeschrieben, aber sie würde beweisen, dass das, was mir nun viele vorwerfen, dass ich willentlich, vorsätzlich oder gar auf Auftrag gehandelt hätte, nicht stimmen kann.

Dienstag, der 14. Jänner 2014 war ein seltsamer Tag. Es herrschte eine seltsame Morgenstimmung, als ich zum Bus ging, um zur Arbeit zu fahren. Nicht mehr ganz dunkel, aber statt dem üblichen Morgengrauen Richtung Osten herrschte eine leicht gelbliche Färbung, die sich über den ganzen Himmel zog. Kaum saß ich, die Stöpsel meines mp3-Players in den Ohren im Zug, vergaß ich jedoch, darauf zu achten. Ich lauschte dem Hörbuch mit geschlossenen Augen und war völlig entspannt. Auch in den anschließenden achteinhalb Stunden meiner Arbeitszeit hatte ich nicht die Muße, mich den Wetterstimmungen zu widmen. Beim Heimkommen allerdings war sie wieder da. Eine Himmelsfärbung, wie sie normalerweise einfach nicht vorkommt. Gelblich und künstlich – mit diesen Worten lässt sie sich am besten beschreiben. Künstlich gelb. Gelblich künstlich. Ein gekünsteltes Gelb. Kunstvolles Gelb. Vergilbte Kunst?
Egal. Es sah seltsam aus. Unwirklich.
Zuhause dachte ich nicht weiter darüber nach. Ich war müde und hatte keine Lust zu putzen, abzuwaschen oder sonst was Nützliches im Haushalt zu machen. Also setzte ich mich an meinen Laptop, startete ihn hoch und wollte die Verbindung zum Internet aufbauen.
„Verbindung fehlgeschlagen“ poppte auf – komisches Fenster übrigens, grau-hellgrau, mit abgerundeten Ecken und einer seltsam dreidimensional wirkenden Schrift. Überhaupt wirkte die ganze Benutzeroberfläche anders als sonst. Zwar waren die gleichen Icons am Desktop zu sehen, aber dessen Farbe wirkte tiefer, die Grafiken plastischer und überhaupt.
„Vielleicht ist da mal wieder so ein automatisches Update drüber gelaufen, von dem ich nichts mitgekriegt habe“, dachte ich bei mir. Aber egal.
Ich schloss das Fenster und versuchte erneut, ins Internet einzusteigen. Während ich darauf wartete, dass die Verbindung sich aufbaute, zogen Gedanken wie Filmausschnitte vor meinem inneren Auge vorbei. Wie eine Spinnenfrau hantle ich mich über ein riesiges, netzartiges Gebilde, das zwischen zwei, hmmm, was denn jetzt: Säulen? Zaunpfählen? Erdkugeln? Jaaa, Erdkugeln sind gut. das sich also zwischen zwei Erdkugeln spannt und versuche, dort einzusteigen... Allerdings trage ich dabei kein anliegendes Spiderman-Trikot, sondern eine Krachlederne und ein rot-weiß kariertes Hemd! Naja, innere Bilder halt. Die sollte man ja auch nicht immer so genau hinterfragen! Jedenfalls tauchen da immer wieder Pop-Up Fenster auf, über die ich klettern muss, was aber nicht möglich ist, weil sie so glatt sind und ich immer wieder abrutsche! Wie schon gesagt: innere Bilder halt!
Jedenfalls leuchtete mir auch in der Realität wieder so ein blödes Fenster entgegen. Wieder „Verbindung fehlgeschlagen“.
„So ein Mist“, maulte ich leise vor mich hin. „Heute will es nicht so, wie ich!“ Unmotiviert klickte ich ein wenig auf dem Verbindungstool herum, schaute mir die Einstellungen an und... hoppla, da stimmte doch was nicht! Warum und wie auch immer sich die Einstellungen geändert hatten war mir nicht klar, aber ich war mir sicher, da stand früher etwas anderes. Ob das an der feindlichen Übernahme der Mobilfunkanbieter lag? Vielleicht sollte das jetzt so sein. Aber funktionieren tat hier gar nichts.
Also nahm ich entnervt das Telefon in die Hand und wählte auswendig (!) - das sagt ja schon alles – die Nummer der Hotline. Nach einer vergnüglichen Viertelstunde in der Warteschleife mit abwechselndem Dauerwerbegesäusel und Täterätätätätääää-Musik, wurde ich gleich mal von der ersten Mitarbeiterin, die für mich frei war, aus der Leitung geschmissen. Für den 2. Anlauf machte ich mir eine Flasche Bier auf und kramte mit einer Hand mein beheizbares Fußbad aus dem Wandschrank. Wasser rein, Badeöl hineingeträufelt, eingeschaltet, ahhhhh, ja, so ließ es sich doch gleich viel besser in einer Warteschleife aushalten! Allerdings dauerte es dieses Mal nur noch gut 10 Minuten, bevor mir ein junger Herr mit abenteuerlichem Dialekt die richtigen Einstellungen diktierte, allerdings auch gleich darauf hinwies, dass es „sauberer“ sei, das Programm erst zu löschen und dann neu und richtig zu installieren, da Änderungen bei bestehenden Einstellungen oft nicht oder nur teilweise übernommen werden könnten. „Auch gut“, dachte ich bei mir, „saubere Lösungen mag ich ja grundsätzlich gerne...“
Also suchte ich erst in der Systemsteuerung – Software - installierte Programme, den Deinstallation-Assistenten, konnte aber nichts finden. Auch gut, dann eben klassisch mit rechte Maustaste und... tatsächlich, hier erschien die Möglichkeit „löschen“ zur Auswahl! Frisch-fröhlich klickte ich darauf.
Plopp: „Warnung! Sie löschen hier nur die Verknüpfung auf dem Desktop. Wenn sie das Programm löschen wollen, geben sie folgenden Pfad ein:
C: Programme/Internetverbindungen und Netzwerke/ Internet“
Mach ich doch glatt: tipsel, tipsel, tip. So.
„Wollen Sie löschen?“
„Ja“
„Bitte wählen Sie aus:
o    Teile des angezeigten Programms? (empfohlen)
o    Alles (nur für routinierte User)“
„Alles“
„Sind sie sicher?“
„Ja“ (du elektronischer Depp – ich würde doch nicht alles löschen sagen, wenn ich nicht alles löschen wollen würde, also bin ich mir sicher)
„Das Löschen dieses Programms kann weitreichende Folgen für bla, bla, bla, bla, und ist unwiederbringlich verloren, bla, bla, bla, kann nicht wiederhergestellt werden“

Jetzt mal im Ernst: haben Sie jemals eine dieser Warnmeldungen von vorne bis hinten durchgelesen UND verstanden? Ich nicht. Die wurden doch einzig und allein dafür kreiert, dass ängstliche User sich nicht trauen, vorinstallierte, mistige Programme zu entfernen und durch womöglich hochwertigere und anwenderfreundlichere der Konkurrenz zu ersetzen!
Langer Rede kurzer Sinn, ich habe 3x, 5x oder 17x auf „Bestätigen“ oder „löschen bestätigen“ oder „alles löschen bestätigen“ oder sonst was geklickt, ohne weiter mitzulesen.
Plopp-popp! Ein neues Fenster erschien mit der Meldung:
„Löschvorgang gestartet“
und dann sah ich zu, wie viele, viele kleine Icons von Bildern, docs, etc. (das musste auch eine dieser Neuerungen sein) in Richtung eines riesigen Mülleimers flogen, aus dem bläulich-gelbe Flammen züngelten.
„Wirkt viel realistischer als der frühere leicht bieder wirkende Papierkorb“, dachte ich bei mir. Die Geschwindigkeit erhöhte sich derart, dass ich gar nicht mehr zuschauen konnte, weil mir richtiggehend schwindlig dabei wurde. Aus den Augenwinkeln wirkte es, als ob die gesamte Benutzeroberfläche von den 4 Ecken des Bildschirms aus zu dem Verbrennungsofen gesaugt und darin verbrannt würde. Ich verlor das Zeitgefühl, mein Blick war aus dem Fenster gerichtet. „Seltsam“ dachte ich mir, „der Himmel wirkt noch immer so gelb wie heute Morgen, obwohl es doch schon dunkel ist.“ Wie lange ich so saß, weiß ich nicht mehr. Als mein Blick zurück zum Bildschirm ging, war er leer. Schwarz. Tot.
Nur in der Mitte prangte wieder eines dieser seltsamen Pop-Up Fenster:

„Internet gelöscht von Marion Müstiger,
am 15.1.2014 um 0 Uhr.
Keine Wiederherstellung möglich“

Uupsi! Das war wohl doch etwas zu viel des Guten. Ich bewegte die Maus, um das Fenster weg- und den Verbrennungsofen anzuklicken. Der Cursorpfeil bewegte sich zwar noch brav hin und her, aber an dem Fenster ließ sich nichts verändern. Auch der Ofenmüll tauchte nicht mehr auf. Da gab es wohl eine sehr gut funktionierende Selbstzerstörungsfunktion. Mist!!

Mein Telefon läutete. Was denn? Um Mitternacht?? Ich ging dran. Eine Männerstimme brüllte mir ins Ohr. „SIND SIE WAHNSINNIG??? WAS HABEN SIE GETAN???“ Ich legte auf. Sofort klingelte es wieder. Ich nahm ab. „Are YOU Marion Müstiger? What the hell did you...“ Ich legte auf, schaltete das Telefon aus, löschte das Licht und schaltete den Computer und alles andere aus, was mich hätte verraten können.
Dann setzte ich mich mit einer Wasserflasche und 2 Decken in den Keller und wartete, bis die Nacht vorbei war. Um acht Uhr morgens schaltete ich das Telefon wieder ein, ignorierte das Läuten und rief bei der Bezirkshauptmannschaft an. „Guten Morgen, mein Name ist Marion Müstiger und ich wollte mich über die Möglichkeit einer Namensänderung erkundigen“, sagte ich vorsichtig. Der Beamte hörte meinen Namen und sagte sofort: „Aber selbstverständlich Frau Müstiger, in ihrem Fall liegt eine Dringlichkeit vor, die es uns erlaubt, ihre Namensänderung sofort und ohne Gegenprüfung durchzuführen. Haben Sie sich denn schon einen neuen Namen ausgesucht?“ Ich atmete hörbar auf. „Ja“, sagte ich „ich würde gerne...“
Nein – diesen Namen, den ich seit diesem Tag trage, verrate ich Ihnen ganz sicher nicht!

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