Mittwoch, 7. Oktober 2020

Familienbande V

 -A-

Kommst du?
ruft sie ungeduldig und tappt nervös mit dem rechten, leicht nach außen gedrehten Fuß auf den Boden.
Die Sonne brennt auf ihren Rücken und sie spürt, wie ihre Stimmung zu kippen droht. Der Ausflug war seit Tagen geplant. Die Abfahrtszeit festgelegt. Immer dieses:
ich muss nur noch schnell,
ich bin gleich soweit...

Die Schweißtröpfchen in ihrem Nacken werden größer und schwerer, beginnen der Schwerkraft nachzugeben und über den Rücken zu rinnen. Der Stoff des schönen, roten Sommerkleids klebt an ihrem Rücken und sie sehnt sich nach einer Dusche. Ihr Hals wird eng und sie schluckt vergeblich gegen den Kloß darin an.

Nicht heulen! Nur nicht heulen! Es sind nur ein paar Minuten Verspätung und kein Weltuntergang! Lass dir von diesem Idioten nur nicht den Tag versauen.
Aber diese Beschwörung funktioniert nicht.
Es geht ihr ja auch gar nicht um die Viertelstunde, die sie später losfahren werden, sondern um die Gedankenlosigkeit, die er ihr gegenüber an den Tag legt. Wie er ihr dadurch immer wieder deutlich macht, wie unwichtig sie ihm ist. Innerlich spürt sie, dass es zu spät ist, der Tag ist ruiniert. Sie will gar nicht mehr fahren. Nicht mit ihm.
Plötzlich ist ihr Zorn verraucht und sie fühlt sich nur noch traurig und müde. Mit hängendem Kopf geht sie zurück zur Haustüre und lässt sich auf die oberste Stufe sinken. So sitzt sie da, in ihrem neuen roten Kleid, die Beine angezogen, Stirn auf den Knien und zuckt nicht einmal mit den Wimpern, als sich die Haustüre hinter ihr öffnet.



-B-

Nur noch schnell das Ladekabel für das Smartphone aus der Schublade ... wo ist das denn wieder! Es ist nicht aufgeladen, er muss die Autofahrt dazu nutzen, sonst ist er den ganzen Tag offline. Das geht ja wohl schon mal gar nicht.
Verflixt, war sie schon wieder an seinen Schubladen? Andauernd räumt sie etwas von hier nach da, obwohl er ihr schon hundertmal gesagt hat, sie solle das unterlassen. Es gibt einen Grund, warum er seine Dinge dort verwahrt, wo sie liegen. Er schnaubt, wie ein wütender Stier. Erst ihr Gehetze, jetzt das von ihr versteckte Ladekabel. Was für ein Scheißtag!
Er war von Anfang an nicht begeistert von diesem Ausflug gewesen, weil er schon geahnt hat, dass so eine Unternehmung im Streit enden würde. Während er zurück ins Schlafzimmer geht, wo auch noch ein Ladekabel liegen könnte, sieht er durchs Fenster diese hoffnungslose Gestalt auf dem Treppenansatz sitzen. Sie sieht aus, als hätte man ihr das Spielzeug weggenommen, was seinen Zorn nur noch anfeuert. Wie er diese Weinerlichkeit hasst. Da ist ihm noch lieber, sie zickt herum, dem kann er wenigstens etwas entgegensetzen.
Erschöpft setzt er sich aufs Bett. Naja, zumindest ist das Ladekabel wirklich da auf seinem Nachttisch. Er nimmt es in die Hand und weiß, wenn er sich jetzt beeilt, kann er die Katastrophe noch abwenden. Gute Miene zum Häufchen Elend da draußen machen, sie mit einem Lächeln in den Arm nehmen und aufmerksam zuhören, wenn sie dann nach vermutlich einer Stunde wieder bereit ist, mit ihm zu reden. Aber er rührt sich nicht vom Fleck. Wie angewachsen sitzt er da und überlegt, wie lange es dauern wird, bis sie nachsehen kommt, wo er ist.
Wie ruhig es im Haus ist, wenn sie nicht ständig herumwuselt. Sie hält es keine halbe Stunde aus, nichts zu tun. Als er sie kennenlernte, war ihm diese Eigenschaft so sympathisch vorgekommen, er war ganz begeistert von ihrer Geschäftigkeit, ihrer Energie. Heute muss er hingegen oft die Augen und Ohren ganz bewusst zumachen, um dem Drang sie k.o. zu schlagen, nicht nachzugeben. Sogar beim Fernsehen, muss sie sich immer nebenbei noch beschäftigen, sie lackiert ihre Nägel, feilt sie, sortiert Servietten aus oder macht sonst eine sinnlose, laute und oft auch übelriechende Beschäftigung. Jetzt hingegen hört er die Bodendielen knacken und den Boiler rauschen. Fasziniert schaut er sich um. Sogar der Raum wirkt still und friedlich, so als könne er endlich seiner Bestimmung nachkommen und Erholung bringen.
Er seufzt.
Andererseits kann er sich aber auch nicht vorstellen, den ganzen Tag in dieser bewegungslosen Ruhe zu verbringen. Lächelnd schüttelt er den Kopf, steht auf, schnappt sich das Kabel und geht zur Haustüre.
 

2 Kommentare:

  1. Hmmm, ob die Beziehung noch zu retten ist? Ich denke, es besteht noch Hoffnung :-)

    Das menschliche Zusammenleben ist aber auch wirklich voller Tücken ;-)

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    1. Lieber Volker,
      sagen wir mal so - für den Moment sieht es ganz gut aus...
      Aber wer weiß schon, was morgen sein wird! ;)

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